© Aleksandr Schumow

Margo in der Syrnaya Dyrka Performance, Moskau 2003


Aleksandr Schumow
Flesh & Stone



Präsentation des virtuellen Bilderforums Partikel Nr. 2
und Fotografien daraus.


Wir haben uns mit einer Fotografie abgefunden, die uns anfangs hässlich, banal und missraten erschien; Fotografien, die schnappschussartig, verwackelt irgendwelche Brotkrumen des Alltags zu den Ikonen für die Antihelden am Rande der Gesellschaft, oder in ihrer Mitte, stilisierten, eroberten das ästhetische Bewusstsein der 90er Jahre. Nicht selten zeigt sich erst von einem bestimmten Abstand aus, dann jedoch umso deutlicher, das Antlitz eines Kapitels der Geschichte, vielleicht sogar eingerahmt von zwei Ereignissen, denen wir die überragende Bedeutung der Begrenzung von Bedeutung beimessen. Die Politik, die Künste und der Journalismus als Einflüsterer der Zeitgeschichte, konstruieren dieses Bild eines Jahrzehnts aus dem Geschehen. Die 90er Jahre erscheinen uns möglicherweise als verschwommene Fotografie einer Afterhour der grossen Party der Wiedervereingung von Ost und West, deren knallhartes Ende uns mit dem Neubeginn der Geschichte am 11. September brutal aus dem Dämmerzustand des Chillout riss.


Vergessen wir jedoch nicht, dass das unsere Sicht ist, die Sicht jener, die als junge, gesunde und wohlhabende Leute an dieser Party teilnehmen können. Deswegen sind unsere Bilder auch etwas verschwommen. Der Dunst des Feierns hat den präzisen Blick wohl etwas benebelt. Wir werden uns im nächsten Jahrzehnt mit anderen Bildern beschäftigen, die vielleicht greller, schärfer und härter sind.


Wer an den Schwellen steht, hat zwei mögliche Blickrichtungen, die ihm ganz unterschiedliche Aussichten eröffnen, aber diese beiden Sichten, seien sie nun räumlicher oder zeitlicher Natur, sind Sichtweisen desjenigen, der an der Schwelle steht. Die Position des "Schwellenblicks" charakterisiert sich als Nichtzugehörigkeit. Immer wieder war der Blickpunkt der Schwellenblick, immer wieder versuchten Künstler von der Schwelle weg ins Bild hinein zu gelangen, nennen wir diese Position den "Innenblick". Stilprägend für die 90er Jahre waren Fotografen, die letzteres versuchten, wie Nan Goldin, David Amstrong, Wolfgang Tillmans oder Allen Frame.


Nebst künstlerischen Strategien waren und sind immer auch die biografischen Standorte und Bewegungen ausschlaggebend für die Wahl einer Position, für die Richtung und Ausrichtung des Blicks. Wenn ein Fotograf sich selbst stets als Beobachter, Reporter oder Voyeur verstand, wird er wahrscheinlicher den Standort des Schwellenblicks eingenommen haben, wie z.B. Karlheinz Weinberger oder Alair Gomes.


Die Schwelle erlaubt Einblick, aber keine Zugehörigkeit. Ob eine Innenposition Zugehörigkeit erlaubt und nicht automatisch der Akt des Fotografierens diese prinzipiell verunmöglicht, möchte ich hier nicht erörtern; zumindest sei festgehalten, dass das Bild, das von dieser Position aus geschossen wird, diese Zugehörigkeit, diese Innensicht und Innerlichkeit zumindest suggeriert.


Alexander Schumow ist ein Pendler. Er ist in Moskau aufgewachsen, wo er 1960 geboren wurde. Er absolvierte dort die Grundausbildungen und studierte Kunstgeschichte an der Moskauer Lomonosow Universität. Bald nach der Wende und der Öffnung Russlands nach Westen begann er zwischen Moskau und Zürich hin und her zu pendeln. An beiden Orten begann er sein Wirken als unabhängiger Kurator, Herausgeber einer Kunst- und Literaturzeitschrift und als Künstler.


Als Fotograf ist er durch dieses Pendlerdasein zwangsläufig an der Schwelle. Das wird besonders sinnfällig in der Imitation des stilprägenden Blicks der nordatlantischen Fotografie. Doch die Imitation ist weit mehr als die Nachahmung des Stils; sie wächst zu einer bemerkenswerten Eigenständigkeit heran, die vielleicht die Kunstgeschichte immer wieder im kulturellen Austausch zwischen Russland und Europa feststellen kann: als vorgängige Imitation, die aber schnell die Form mit einer anderen Bedeutung und anderen Inhalten versieht, bis sich sodann das Imitat auch formal verändert und sich von der Vorlage abzuheben beginnt.


Schumow begnügt sich nicht damit, dieser spätbürgerlichen Debatte ein russisches Ebenbild zu schaffen (die "Innensicht" imitierend), sondern er versetzt das scheinbar spontane Bild mit einem, man möchte fast sagen typisch russischen Tiefgang und Symbolismus, der das Imitat nicht nur formal, sondern eben auch inhaltlich abhebt von den analogen Innensichten "auf" orientierungslose Jünglinge und drogensüchtige Töchter der nordatlantischen Kultur. Er stellt uns allgemeine und sehr persönliche Bilderrätsel, inszeniert uns eine beklemmend schöne Bühne des Moskauer Alltags, die uns zu bestätigen scheint, dass immer nur ein Zimmer geheizt ist, das aber jedoch sehr. Er malt uns Ikonen eines echten Antihelden und seiner grossen Sehnsucht sich nackt in einem Meer von Reichtum und Glück zu baden.


(Text: Patrik Schedler)


Samstag, 15. November 2003, ab 17 Uhr


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