© VG Bild-Kunst, Bonn 2005

MILCH (80 Hz), 2000
Standbild von durch Klang modulierten Milch-Oberfläche, Cibachrome auf Aluminium, 60 x 50 cm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2005
Courtesy Galerie EIGEN+ART Leipzig/Berlin


Carsten Nicolai
anti reflex



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Carsten Nicolai zählt heute zu den wichtigsten Vertretern einer Künstlergeneration, die gezielt die Schnittstellen zwischen Kunst, Natur und Wissenschaft untersucht. Als grenzüberschreitender bildender Künstler, Forscher, Musiker und Produzent in Personalunion versucht Nicolai, die Trennung menschlicher Sinneswahrnehmungen zu überwinden und naturwissenschaftliche Phänomene wie Klang- und Lichtfrequenzen oder elektromagnetische Felder sowohl mit den Augen als auch mit dem Gehör- und Tastsinn erfahrbar zu machen. Seinen Installationen ist eine minimalistische Ästhetik eigen, die durch Eleganz, Schlichtheit und Technizismus besticht. Nach Beteiligungen an wichtigen internationalen Ausstellungen wie der documenta in Kassel und der Biennale in Venedig präsentiert die Schirn erstmals eine grosse Überblicksausstellung, für die der 1965 in Chemnitz geborene Künstler eine Reihe neuer Arbeiten produzieren wird.


Max Hollein, Kurator der Ausstellung: "Carsten Nicolai verbindet in seiner Arbeit wissenschaftliche Analyse und Methodik von Laborversuchen mit einer intuitiven Suche nach einer neuen Sprache für sein künstlerisches Schaffen. Er bedient sich komplexer physikalischer Prozesse und transferiert sie in ästhetisch erfahr- und begreifbare visuelle und akustische Signale."


Carsten Nicolai über seine Beziehung zur Wissenschaft: "Ich arbeite gern unter sehr präzisen Bedingungen, und in diesem Sinn sind wissenschaftliche Forschung und künstlerische Prozesse mehr oder weniger das Gleiche. Wer nur der bestehenden Logik folgt, verhält sich wie eine Maschine. Erst wer diese Gesetze durchbricht und etwas Unvorhergesehenes tut, betritt neuen Boden. Viele berühmte wissenschaftliche Erfindungen sind durch Zufälle entstanden; oft sind es die unerwarteten Augenblicke, die zu neuen Entdeckungen führen."


Das Nebeneinander des Akustischen und Visuellen ist ein ständig wiederkehrendes Thema im Werk Carsten Nicolais. Der Tradition Ernst Chladnis (1756-1827), des Begründers der modernen Akustik, folgend, versucht Nicolai, unterschiedliche Sinnesempfindungen miteinander zu verknüpfen. In wiederholten Versuchsanordnungen werden beispielsweise Flüssigkeiten mit Tonsignalen verschiedener Frequenzen animiert, sodass Wellen entstehen, die sich in Form von konzentrischen Kreisen kräuseln, aufeinander stossen, sich verbinden und dabei Schwingungsknoten und Störungsmuster erzeugen. Durch den visuellen Sinneseindruck von Nicolais teils grossräumigen Installationen wird das Klangerlebnis in Porträts der Frequenzen umgewandelt.


Die aus einem ähnlichen Experiment resultierende Fotoserie "milch" besteht aus Abbildungen unterschiedlicher Milchoberflächen, die durch ansteigende Frequenzen in Schwingung gebracht worden sind. Während die niedrigen Frequenzen eine chaotisch anmutende Fläche erzeugen, bilden hohe streng rhythmisch geordnete Muster. Die Arbeiten sind gleichermassen Visualisierungen eines akustischen Phänomens wie eigenständige Kunstwerke, die aus der ihnen innewohnenden Ästhetik wirken.


In anderen Arbeiten wie "void" versucht Nicolai, in Glasrohren Ton zu versiegeln und damit unsere Wahrnehmung zu hinterfragen sowie die Lebensspanne von Geräuschen zu thematisieren. Nicolai geht es dabei weniger um das Begreifen des einzelnen Objektes, sondern vielmehr um Relationen, um einen Systemzusammenhang, in dem kausale Abhängigkeitsverhältnisse herrschen. Klänge durchdringen den Raum, greifen auf Bilder und Objekte über und verleihen damit der gesamten Ausstellung eine Art von Polyrhythmik.


Immer wieder wird das Prinzip der Polarität erkennbar: Sichtbares und Unsichtbares, Licht und Dunkel, Positiv und Negativ, wissenschaftliche Labormethoden und metaphysische Weltinterpretationen. In der Ausstellung in der Schirn werden einander zwei Räume gegenübergestellt: "reflex" und "anti". Der eine Raum ist hell, der andere nahezu dunkel. Der Besucher verbindet die beiden Räume, indem er durch eine Passage geht, deren geometrische schwarzweisse Siebdrucktapete vom Auge als Ansammlung pulsierender Felder und visueller Rhythmen empfunden wird.


Zentrales Element des "reflex"-Raums ist eine gleichnamige würfelförmige Skulptur. Sie besteht aus einer zwölfeckigen, 3 m hohen Box, die an einer Seite offen ist und den Besucher einlädt, den Innenraum zu betreten, wo aus zehn Lautsprechern mit hoher Geschwindigkeit Ton von Hochfrequenz-Weissem-Rauschen zirkuliert und die akustische Illusion erzeugt, dass in den Wänden der Box ein weiteres, dreidimensionales Objekt verborgen ist.


Auch andere Werke in diesem Ausstellungsteil wie "visuelles feld" beziehen den Betrachter ein. In dem Moment, in dem er die Installation betritt, gerät er in das visuelle Feld einer CCD-Kamera, wodurch das akustische Signal verändert und das Bild unterbrochen wird - Konzepte wie Zeit, Raum und Identität werden in Frage gestellt. An anderer Stelle steht ein "einkristall" - ein Materialblock, der sich durch die regulärste existente Anordnung von Atomen auszeichnet und als hochwertigstes Speichermedium in der Mikroelektronik Verwendung findet - als Referenz für ein komplexes Muster der Natur.


Der zu "reflex" korrespondierende Raum "anti" enthält ebenfalls eine Skulptur - ein gleichförmiges schwarzes Pendant, das im Gegensatz zur Ersteren nicht betreten werden kann. Über eingebaute Subwoofer gibt "anti" tiefe Frequenzen von sich, die nicht gehört, sondern nur gespürt und vom Besucher durch Berührung verändert werden können. Formal bezieht sich die Skulptur auf eine geometrische Form aus Albrecht Dürers Stich "Melancholia I" und greift somit neoplatonische mathematische und geometrische Konzepte der Renaissance auf, die sie mit der zeitgenössischen Diskussion über akustische Dimensionen der Architektur verbindet. Physikalische Phänomene liegen auch der Arbeit "funken" zugrunde, die Elektrizität in Form von aus der Wand kommenden Funken visualisiert.


Carsten Nicolai verbindet in seiner Arbeit unterschiedliche Naturphänomene und implementiert sie in seine eigene künstlerische Sprache. Der neuartige, erfrischende Eindruck, den seine Arbeiten hinterlassen, entsteht dadurch, dass sie jenen undeutlichen Grenzbereich hervorbringen, in dem Bewusstsein und Materie ineinander übergehen und der Betrachter der Realität einer sowohl innerlichen als auch körperlichen Erfahrung sehr nahe kommt. Er wird auf sein ureigenes Empfinden und somit auf die essenziellen Fragen nach der Ordnung der Dinge zurückgeworfen.


Die Ausstellung wurde durch die Kulturstiftung der Länder sowie die Merck KGaA gefördert. Zusätzlich wurde sie von der Schott AG und der EAS GmbH unterstützt.


Zusätzlich geht mit Beginn der Ausstellung unter www.antireflex.de eine Website online, die den Charakter der Werke Carsten Nicolais erfahrbar macht. Analog zur realen Schau spiegelt sich deren Dualität auch auf der Website. Von einer animierten Startseite mit optischen Effekten kann sich der User durch den virtuellen Ausstellungsraum bewegen und an fixierten Punkten Informationen zu den einzelnen Arbeiten erhalten. Die Website wurde von Neue Digitale GmbH. Kreativagentur für digitale Markenführung konzipiert und realisiert, die zusätzlich Medienpartner der Ausstellung ist.


Ausstellungsdauer: 20.1. - 28.3.2005
Öffnungszeiten: Di, Fr-So 10 - 19 Uhr, Mi/Do 10 - 22 Uhr


Schirn Kunsthalle Frankfurt
Römberberg
D-60311 Frankfurt am Main
Telefon +49 69 29 98 82-0
Fax +49 69 29 98 82-240
Email welcome@schirn.de

www.schirn.de






Carsten Nicolai
anti reflex



Carsten Nicolai is presently considered to be one of the most important representatives of a generation of artists who are purposefully exploring the points of intersection between art, nature, and science. As a cross-border visual artist, researcher, musician, and producer combined in one person, Nicolai seeks to overcome the division among the senses in human perception and to make it possible to experience scientific phenomena like the frequencies of sound and light or electromagnetic fields with the eyes as well as by hearing and touch. His installations radiate a minimalist aesthetics that captivates visitors with its elegance, simplicity, and emphasis on technology. Following his participation in important international exhibitions like the Kassel documenta and the Venice Biennial, the Schirn presents the first major survey, for which the artist, born in Chemnitz in 1965, will produce a series of new works.


Max Hollein, curator of the exhibition: "In his work, Carsten Nicolai combines the scientific analysis and methodology of laboratory experiments with an intuitive search for a new language he may rely on in his work as an artist. He makes use of complex physical processes which he transfers into visual and acoustic signals that can be experienced and understood."


Carsten Nicolai on his attitude towards science: "I like to work under very precise conditions, and scientific research and artistic processes are more or less the same in this regard. People who just follow the prevailing logic behave like machines. Only those who break these laws and do something unexpected break fresh ground. Many famous scientific inventions came about by chance; new discoveries often spring from unexpected moments."


The coexistence of the acoustic and the visual is a recurrent theme in Carsten Nicolai's work. In the tradition of Ernst Chladni (1756-1827), the founder of modern acoustic science, Nicolai aims at linking different sensory perceptions. In repeatable experimental arrangements, liquids are animated by means of sound signals of different frequencies, for example, which generates waves that ruffle the surface in concentric circles, meet, and join, creating vibration knots and interference patterns. The visual impression of Nicolai's partly large-space installations transforms sound experiences into portraits of frequencies.


Resulting from a similar experiment, the photo series "milch" consists of pictures of different milk surfaces which have been set vibrating by increasing frequencies. While low frequencies create apparently chaotic surfaces, high frequencies form strict rhythmic patterns. The pieces are both visualizations of an acoustic phenomenon and autonomous works of art the effect of which is grounded on an aesthetics of their own.


In other works such as "void," Nicolai tries to question our perception and to focus on the life span of sounds by sealing them in glass tubes. This approach reveals an artist who is less interested in exploring the individual object but rather in the relations, the systematic context determined by causal interdependencies. Sounds penetrate space, encroach on pictures and objects, and thus provide the entire presentation with a kind of polyrhythmics.


Again and again, we come upon the principle of polarity: the visible and the invisible, light and dark, the positive and the negative, scientific laboratory methods and metaphysical interpretations of the world. The exhibition in the Schirn confronts two spaces: "reflex" and "anti." While one room is light, the other is almost dark. Visitors forge a link between the two spaces by walking through a passage with a geometric black-and-white silk-screen print wallpaper the eye registers as an accumulation of pulsating fields and visual rhythms.


The central element of the space "reflex" is a cubic sculpture of the same name. This sculpture consists of a dodecagonal, three-meter high box; with one side open, it invites the visitor to enter its interior where high-frequency white noise from ten speakers circulates with high velocity. The sound creates the acoustic illusion that a further three-dimensional object must be hidden in the walls of the box.


Other works in this section of the exhibition such as "visuelles feld" also involve the viewer. As soon as the visitor walks into the installation he enters the visual field of a CCD camera and thus changes the acoustic signal and interrupts the picture - questioning notions like time, space, and identity. Somewhere else, an "einkristall" (a block characterized by the most regular arrangement of atoms there is and used as a high-quality storage medium in microelectronics) suggests itself as a reference for a complex pattern of nature.


The space "anti" corresponding to "reflex" also contains a sculpture - a uniform black counterpart which, contrary to the former, is no walk-in area. Built-in sub-woofers emit deep frequencies which cannot be heard but only felt and changed by the visitor's touch. Formally, the sculpture refers to a geometrical form in Albert Durer's engraving "Melancholia I" and thus takes up Neoplatonic mathematical and geometrical concepts of Renaissance times which it combines with the contemporary discussion about acoustic dimensions of architecture. The work "funken", which visualizes electricity in the form of sparks coming from the walls, is also based on physical phenomena.


In his work, Carsten Nicolai links different natural phenomena which he incorporates into his language as an artist. The novel, refreshing impression of his works results from the fact that they unfold that vague border area where consciousness and matter merge and the viewer, coming very close to the reality of a both inner and physical experience, is referred back to his own feeling and the essential questions concerning the order of things.


The exhibition was sponsored by Kulturstiftung der Länder and Merck KGaA. Additional support was granted by Schott AG and EAS GmbH.


Additionally, www.antireflex.de will go online with the opening of the exhibition. Reflecting the duality of the real show, this new website enables users to immediately experience the character of Carsten Nicolai's works. Starting from an animated page with optical effects, users can move through the virtual exhibition space and get information on individual works at certain points. The website was designed and realized by Neue Digitale. Agency for Digital Branding, which is also the Schirn's media partner for the exhibition.


20 January - 28 March 2005