© Li Zhensheng

© Li Zhensheng: Mao


China.Change
Umbruch im Reich der Mitte



Ob Taikonauten, wirtschaftliche Explosion und Börsenboom, die Entdeckung der Individualität oder Öffnung des kommunistischen Systems - seit den 1990er Jahren befindet sich die Volksrepublik China erneut in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch und steht verstärkt im öffentlichen Interesse des Westens. Während jedoch vor allem ökonomisches und politisches Wissen über die traditionelle Kulturnation verbreitet ist, sind in Europa nur Bruchteile der chinesischen Geschichte, Kultur und Leben des 20. und 21. Jahrhunderts bekannt. China ist in seiner Ferne und Fremdheit oft nur Projektionsfläche für westliche Bilder und Sehnsüchte.


Die von C/O Berlin organisierte Veranstaltungsreihe "China.Change" ist eine kulturelle Standortbestimmung. Sie versteht sich als Momentaufnahme der gesellschaftlichen Veränderungen des Landes. "China.Change" bietet eine Plattform, um das vielfältige Bild Chinas zu ergänzen und Anstösse in der aktuellen China-Diskussion zu geben. Zwei wesentliche Zeiten des Wandels, die die Entwicklung Chinas der letzten 50 Jahre bestimmt haben, werden zueinander in Beziehung gesetzt - der Modernisierungsprozess im heutigen China und die Kulturrevolution unter Mao Zedong ab Mitte der 1960er Jahre.


Die Studio-Reihe "China.Present" präsentiert in drei Ausstellungen aktuelle, junge Positionen chinesischer Fotografen. "China.Past" - einzigartige fotografische Zeugnisse der Kulturrevolution werden in der dokumentarisch-erzählerischen Ausstellung "Roter Nachrichtensoldat" gezeigt. Diese beiden Themengebiete werden im "China.Forum" durch Vorträge und Podiumsdiskussionen von China-Spezialisten, Künstlergespräche, Führungen und der Filmreihe "China.Cinema" begleitet und ergänzt. "China.Change" wirft Fragen auf, um Vergangenes neu zu beleuchten, aktuelle Tendenzen aufzuzeigen und den Mythos China neu zu betrachten.


Der Begriff "Change" - dramatischer, beschleunigter und permanenter Wandel - offenbart die Essenz der chinesischen Geschichte der letzten hundert Jahre. Die Modernisierung des Reiches wurde nach Jahrzehnten des Chaos zu Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen Warlords und japanische Aggressoren nacheinander auf die Bühne kamen und die kommunistische Bewegung den "Langen Marsch" in die Tiefen des Hinterlands antrat, ab 1949 systematisch angepackt, als nämlich die Volksrepublik China auf dem Platz des Himmlischen Friedens von Mao Zedong ausgerufen wurde.


Nach sozialistischen Klassenkriterien wurde die Gesellschaft radikal umstrukturiert, während das Land im Rahmen von Massenkampagnen schieren Ausmasses aufgebaut wurde. Ziel war es, China im Schnelltempo durch einen "Grossen Sprung nach vorn" wieder zu einer führenden Zivilisation in der Weltgesellschaft zu machen, was kläglich scheiterte und zur grössten Hungerskatastrophe des 20. Jahrhunderts führte. Die Führung entzog sich der Verantwortung und schob die Schuld stattdessen dem Einfluss des noch nicht ganz ausgerotteten "Feudalismus" und der angeblichen "Infiltration" Chinas durch die ausländischen "Imperialisten" in die Schuhe.


Die Gesellschaft musste neu gestaltet werden, am besten im isolierten Zustand fernab von ausländischen Interferenzen. Die Grosse Proletarische Kulturrevolution, die 1966 initiiert wurde und sich unter dem Einfluss der berüchtigten "Viererbande" bis 1976 fortsetzte, sollte dieses neue politische Programm verwirklichen. In dieser Zeit beherrschte die kommunistische Ideologie China ganz und gar. Wirtschaft und Bildung wurden vollkommen vernachlässigt. Es entstand eine Generation, die sich die "Generation der Leere" nannte. Diese lange Zeit der sozialistischen Hysterie und nationalistischen Xenophobie fand erst mit dem Tod von Mao Zedong im Jahre 1976 sein von grossen Teilen der Bevölkerung heissersehntes Ende.


Unter seinem Nachfolger Deng Xiaoping, der die ökonomische Entwicklung des Landes nach marktwirtschaft-lichen Kriterien auf Kosten althergebrachter kommunistischer Ideale vorantrieb, fand China trotz fehlgeschlagener Demokratisierungsversuche innerhalb einiger Jahrzehnte Anschluss an die globale Gesellschaft. Diese rasche Entwicklung brachte Taikonauten, den Börsenboom, die Entdeckung der Individualität hervor, aber auch einen weiterhin kontinuierlichen Wandel der Gesellschaft, der Landschaft und des ganz normalen Alltags, insbesondere in den urbanen Zentren der Megalopolen Beijing und Shanghai. Die dramatische Entwicklung Chinas in den letzten 100 Jahren erinnert an die Argo, das Schiff der Argonauten: Auf ihrer langen Fahrt musste sie so oft repariert und ausgebessert werden, dass sie im Endeffekt nach und nach komplett überarbeitet wurde, Einzelteil für Einzelteil, so dass die Argo am Ende ihrer langen Fahrt zwar noch immer die gleiche Argo war, aber irgendwie auch bereits eine andere.


In diesem modernen, von Umbrüchen durchsetzten China war die Kamera vor allen Dingen ein politisches Instrument, das den sozialistischen Aufbau mit seinen positiven Helden als perfekt arrangiertes Stilleben dokumentierte bzw. den Enthusiasmus der ideologischen Massenkampagnen in symmetrisch kalkulierten und systematisch nachkolorierten Bildern zu erfassen versuchte. Ausgeblendet wurden nicht nur die Opfer und die Schattenseiten des Sozialismus, sondern auch das ganz einfache und absolut unheroische Alltagsleben.


In den Medien wurde China immerzu als schön, makellos und sozialistisch dargestellt. In den 1970ern lud der damalige chinesische Premier Zhou Enlai den italienischen Regisseur Michelangelo Antonioni nach China ein, damit dieser einen Dokumentarfilm über das Land drehe. Antonioni hielt mit seiner Kamera die banalen und faden Details des realexistierenden Sozialismus in Peking fest, ohne Schminke und Inszenierung. Die Folge war eine von der "Viererbande" inszenierte Kampagne, in der Antonionis Film in hysterischen Tönen als imperialistische Diffamierung des neuen Chinas denunziert wurde.


Diese Tradition der politisch ästhetisierenden Kamera lebt heute weiter, denn in den Medien sollen nur die Erfolge der sozialistischen Marktwirtschaft visualisiert werden, nicht aber die dadurch verursachten Widersprüche und Konflikte innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Die Argo des 21. Jahrhunderts ist zwar eine andere geworden, aber sie soll immer nur prächtig und glanzvoll erscheinen. Bruchstellen und Reparaturen blendet die offizielle Kamera aus.


Eigentlich sind wir, die aus der grossen Ferne dieses riesige aber fast vollkommen fremde Reich beobachten und deshalb oft eher als Projektionsfläche für unsere exotischen Begierden missbrauchen, von der Realität Chinas nicht nur durch die Sprache getrennt, sondern auch durch den Mangel an visuellen Informationen, die uns unmittelbar und unzensiert erreichen bzw. unseren Horizont in Form von künstlerischen Kompositionen epiphanienartig erweitern und uns statt nur Sehenswürdigkeiten eher das sehen lassen, was würdig ist, gesehen zu werden, will man in das Herz des modernen Reiches der Mitte gelangen.


In "China.Change" sehen wir, was passiert, wenn ein offizieller Photograph der Kulturrevolution verbotenerweise seine Kamera auf die Realität jenseits der Propaganda richtet. Wir sehen aber auch, visuell erzählt von drei zeitgenössischen Fotokünstlern, die Fortsetzung der Geschichte, in der ungeschminkte Moment und Grossaufnahmen der Argo während ihres jüngsten Renovierungsprozesses zwischen Sozialismus und Globalisierung gezeigt werden.


Dr. Rui Magone, FU Berlin


Ausstellungsdauer: 12.6. - 19.9.2004
Oeffnungszeiten: täglich 11 - 19 Uhr


C/O Berlin
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