© Christoph Draeger

Christoph Draeger / Reynold Reynolds / Gary Breslin
The Last News (2002)
DVD, 13' (mit Guy Richard Smith)


Christoph Draeger
Memories of terror from a safe distance



Der Schweizer Künstler Christoph Draeger (1965, lebt in New York) setzt sich seit rund 10 Jahren konsequent mit den verschiedensten Katastrophen und ihrer medialer Vermittlung auseinander. Dabei kommen sich die Auswirkungen von Naturkatastrophen, desaströsen Unfällen, von krimineller und terroristischer Gewalt hinsichtlich Leid, Grauen und Medialisierung oft erstaunlich nahe. Für seine Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn legt Draeger erstmals einen thematischen Schwerpunkt auf Terrorismus.


Eine der wichtigen neuen Arbeiten, die Draeger für diese Ausstellung konzipierte, ist eine komplexe Video-Installation mit dem Titel "Stammheim". Nach den einschneidenden Ereignissen von 9/11, die der Künstler in New York miterlebt hat, scheint die Auseinandersetzung mit Terrorismus besonders aktuell. Der Künstler wirft jedoch mit der Videoinstallation "Stammheim" einen Blick zurück und stellt Übereinstimmungen mit längst Vergangenem fest. Die terroristischen Gewaltakte der RAF führten in der damaligen BRD zu polizeistaatlichen Reaktionen, die an die Diskussionen um die Einschränkung der demokratischen Rechte in den USA in der Nachfolge von 9/11 erinnern. In "Stammheim" stehen sich historisches Filmmaterial und nachgespielte, fiktive Sequenzen gegenüber. Auf dem Fernseher im 70er Jahre-Wohnzimmer läuft ein Zusammenschnitt aus Nachrichtensendungen und Reportagen zu den Ereignissen des "deutschen Herbst". Die in den nachgebauten Zellen von Ensslin, Baader und Raspe projizierten Videos sind nur durch ein Guckloch in den Zellentüren zu betrachten. In verschwommener Aufnahmequalität und in Zeitlupe imaginiert Draeger jene Innen-Ansicht, die den damaligen Reporterkameras unzugänglich war. Mit dieser Gegenüberstellung von hypothetischen und dokumentarischen Szenen verwischt Draeger nicht nur die Grenze von Fiktion und Wirklichkeit, sondern thematisiert auch die Entstehung von Mythen durch die Medienbilder. Gerade im Bereich des internationalen Terrorismus drängt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Terrorismus und Live-Berichterstattung besonders auf.


In seinem Video "The Last News" (DVD, 2002) hinterfragt Draeger gewisse Mechanismen der TV-Berichterstattung, indem er auf ironische Weise die sensationslüsterne Begeisterung eines amerikanischen Nachrichtensprechers bis zum bitteren Ende inszeniert: eine nur scheinbar oberflächliche Parodie, bei der wir uns lachend plötzlich mit ureigenen Angstvisionen von Tod und Weltuntergang konfrontiert sehen. Mit dem Modell für ein rekonstruierbares Gebäude (Puzzle, Karton, ca. 4x1x2 m, 2003) entwirft Draeger zum selben Thema eine stille Arbeit. An dem hohen Turm, der aus lauter weissen Puzzleteilen besteht, kann nach der potenziellen Zerstörung gleich der Wiederaufbau geübt werden. Die Katastrophenübung steht für Draeger als eigentliche Metapher für die verwechselbare Ähnlichkeit von Imagination und Wirklichkeit.


Im selben Raum reiht sich in der Video-Installation "Crash" (DVD, 1999/2003) eine Bildauswahl der schlimmsten Luftfahrtdesaster aneinander: Unfälle und Anschläge seit dem Absturz der Hindenburg bis heute. Dazwischen finden sich jedoch auch gefilmte Test-Abstürze und Spielfilmausschnitte, wobei letztere dem TV-geprägten Zuschauer paradoxerweise viel realistischer erscheinen als die dokumentarischen Amateurfilme der tatsächlichen Ereignisse. Als nüchterne, unspektakuläre Entgegnung zeigt der zweite Monitor einen blauen, vom Flugzeugfenster aus gefilmten Himmel, worauf die Daten der 100 grössten Flugzeugkatastrophen eingeblendet werden. Das Video steht für jenen kurzen Moment der Angst, in dem die meisten Fluggäste an die theoretische Möglichkeit eines Absturzes denken und dann mit einem Blick aus dem Fenster verdrängen.


In der Fotoreihe "Voyages apocalyptiques" (seit 1994) bildet Draeger die Schauplätze von Katastrophen aus einer zeitlichen und räumlichen Distanz ab, was auf die menschliche Vergänglichkeit ebenso wie auf die Halbwertszeit der Medienwirksamkeit hinweist. Viele dieser Desaster berühren uns heute so wenig wie die Orte selber noch Spuren tragen: auf den Fotografien wirken Halifax, Lockerbie und Hiroshima friedlich und unversehrt.


Für den dritten Ausstellungsraum entwickelte Draeger eine neue Video-Installation rund um Stanley Kubricks legendären Science Fiction-Film "2001: A Space Odyssey" (1968). Die visionäre Jahrzahl "2001" im Filmtitel erscheint aus heutiger Sicht hinsichtlich der einschneidenden Ereignisse des 11. Septembers 2001 geradezu prophetisch. Heute gehört die damalige futuristische Vorstellung auch insofern längst der Vergangenheit an, als gewisse fiktive Schreckensvisionen durch die Realität der fallenden Twin Towers eingeholt wurden. Generell verweist Draeger aber mit dem Einbezug dieser Arbeit auf mögliche Parallelen zwischen Science Fiction und internationalem Terrorismus, da beide von idealistischen Visionen ausgehen, die im Umfeld der politischen und gesellschaftlichen Befreiungsbewegungen der 68er-Jahre entstanden.


Katharina Ammann


Zur Ausstellung erscheint ein umfassender Ausstellungskatalog (Deutsch/Englisch, 80 Seiten) mit Texten von Katharina Ammann, Christoph Draeger und Christoph Tannert im Verlag Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main.


Ausstellungsdauer: 13.9. - 16.11.2003
Oeffnungszeiten: Di-Fr 10 - 12 Uhr, 14 - 17 Uhr
Sa-So 10 - 17 Uhr
Mo geschlossen


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