© Loredana Sperini

Loredana Sperini: Ohne Titel, 2004


ENTRE

Ruth Blesi
, Charlotte Hug, Simone Schardt, Loredana Sperini


Zeichnungen im Dazwischen


Wo ist also dieses Ich,
wenn es weder im Körper,
noch in der Seele ist?
(Blaise Pascal)


Les Complices* eröffnen die Saison mit einer Zeichnungs-Ausstellung zum Begriff "Dazwischen".


Erste Zwischenräume öffnen sich in Fragen der Identität, wie obenstehendes Zitat von Blaise Pascal veranschaulicht. Rimbaud sagte: "Ich ist ein Anderer". Beim ersten Blick in einen Spiegel sehen wir einen Fremden. Erst nach dem Säuglingsalter beginnt die Identifikation mit diesem Anderen.


Unsere (Selbst-)Wahrnehmung durchquert ständig eine Grauzone zwischen Innen und Aussen. An diesem Dual orientiert sich das Ich, schafft Ordnung gegen das drohende Chaos. Seit Descartes stellt sich zudem die Frage, ob wir überhaupt je ans Aussen herankommen. Hier bietet sich an, die radikale Trennung von Innen und Aussen aufzuweichen, das Dazwischen, das Niemandsland, die Unschärfe zu beachten und zu beleben. Der Zwischenraum kann zur Projektionsfläche des Innen und des Aussen werden; hier findet Kultur statt, wird Welt erzeugt. In der kulturellen Form der Texterzeugung wird ein Aussen erinnert und imaginiert. "Im Lesen dieser Welten - als einer Metapher für das Leben - kann man selbst werden und sich selbst verlieren".


Kunst als Erzeugung von Welt überfällt uns meistens unmittelbar. Wir sind dem Augenblick ausgesetzt. Die Plötzlichkeit öffnet einen Zwischenraum, in dem alle Möglichkeiten oszillieren. Die Suche nach dem Augenblick scheint den Raum im Dazwischen zu finden, schreibt Hanne Seitz. Und genau damit hat ästhetische Praxis zu tun. Das "ästhetische Denken" (Wolfgang Welsch, 1990) ist die Fähigkeit, sich inmitten der Pluralität - oder eben im Dazwischen - zu bewegen. Ebenso ist die "ästhetische Geste" eine Ausdrucksform des Dazwischen.


Die Figur Dazwischen taucht nicht bloss im ästhetischen und psychologischen Zusammenhang auf, sondern ist in der heutigen Gesellschaft geradezu omnipräsent. Längst sind wir eine Migrationsgesellschaft. Iain Chambers schreibt dazu: Migration ist "eine Bewegung, in der weder Orte der Abreise noch die der Ankunft unveränderlich oder sicher sind. Sie verlangt nach einem Wohnen in Sprache, Geschichtlichkeiten, in Identitäten, die ständiger Wandlung unterworfen sind".


Ausserdem wurden die 30jährigen schon vor zehn Jahren als Generation X und später als Generation Golf bezeichnet. Merkmal aller Typologisierungen: Die 30jährigen sind die Generation zwischen Stuhl & Bank.


Unsere Gesellschaft wurde verschiedentlich auch als Event-Gesellschaft beschrieben. In "Die Macht der Ereignisse" schreibt Bernhard Waldenfels: "Was "hier und jetzt" geschieht, bildet (...) den blossen Übergang zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht. Auch hier scheint auf, dass wir uns im Grunde genommen ständig in einem Zwischenraum befinden.


Gesellschaftskritisch können die Zeichnungen von Ruth Blesi betrachtet werden. Die Künstlerin zeigt bei Les Complices* eine Serie von Bildern, die sie am Computer gezeichnet hat. Als Vorlage dienen ihr Pressebilder, von denen sie Ausschnitte neu zusammenfügt. So entstehen höchst verstörende Zusammenhänge. Da baumeln sexy Frauenbeine vor KZ-Öfen, da wird unter Operationstischen gekämpft und neben Eishockeyspielern ein Demonstrant zu Boden gedrückt. Ästhetisch sind die Bilder ein Ganzes; auf den zweiten Blick jedoch entziehen sich die Zeichnungen einer eindeutigen Interpretation. Diese passiert im Bereich zwischen den einzelnen Aussagen, zwischen den Medienbildern. Ähnlich wie sich beim Durchblättern einer Zeitung Bilder durchmischen, oder in unserer Erinnerung mehrere Bilder zu einem werden.


Erinnerungen spielen auch in den Zeichnungen von Simone Schardt eine zentrale Rolle. In ihnen zeichnet sie Fragmente aus dem Laboralltag auf Papier, das ursprünglich als Protokoll von eigenen Versuchsreihen diente. Die Kurven und Zahlen schimmern auf dem Endlospapier immer noch durch. Sechs Jahre später überschreibt sie diese nun mit dem Filzstift und zeichnet Laborinterieurs, Songtexte und Gedichte auf das gerasterte Papier. Pixelgebirge schieben sich über und zwischen die Amplituden und bilden Seismogramme der Erinnerung. Durch die zum Teil enorme Länge der Arbeiten entsteht der Eindruck von Linearität, wird scheinbar eine Handlungb von Links nach Rechts erzählt. Die eigentliche Geschichte erschliesst sich erst in den behutsamen Andeutungen, Auslöschungen und Schichtungen der zeitlichen Sedimente. Zwischen tragischer Dichtung und stupidem Nummerieren der Reagenzgläser, zwischen enzymatischem Abbau und schmachtenden Liebesliedern, irgendwo dazwischen steht das Künstlerinnensubjekt, das durch Reagenzglaswälder hindurch zu uns spricht.


An Seismogramme erinnern auch die Zeichnungen von Charlotte Hug. Die Künstlerin hat eine klassiche Musikausbildung (Bratsche) und schloss später an der HGKZ "Szenisches Gestalten" ab. Musik und Zeichnungen entwickelt Charlotte Hug in einem wechselseitigen Prozess. Wenn die Künstlerin zeichnet, hört sie dazu ihre Musik. Auf halbtransparentem Papier entstehen so genannte "Sonicons" - Aufzeichnungen der Musik mit Grafit. Diese "Partituren" kann Charlotte Hug wiederum musikalisch umsetzen. Die "Sonicons" scheinen manchmal wie Bergkämme, manchmal wie japanische Schriftzeichen. Sie pendeln zwischen gewaltigen Strichen und flüchtigen Berührungen. Charlotte Hugs für das ungewohnte Ohr schwer zugängliche Neue Musik wird plötzlich sichtbar, nachvollziehbar. Ebenso beginnen die abstrakten Zeichnungen zu tönen.


Manchmal scheinen auch die Figuren von Loredana Sperini zu tönen, zu schreien, zu weinen, zu singen, zu summen. Die Haut, die Hülle der Gezeichneten löst sich auf, das Innere diffundiert nach Aussen. Manche Figuren verdoppeln sich gar oder verschmelzen mit der Umgebung. Loredana Sperini nähert sich mit ihren Zeichnungen der Seele der Menschen. Sie scheint das Verborgenste Innere in den Zwischenraum zu holen. Der Betrachter, die Betrachterin wird konfrontiert mit überwältigenden Gefühlen. Obwohl es klischiert klingt: Die verbale Sprache versagt angesichts der Zeichnungen. Trotzdem glaubt man die Figuren zu verstehen, zu durchschauen. Was die Künstlerin visualisiert, ist genau das, was sich nicht wirklich passend benennen lässt. Und verdeutlicht damit, dass die "ästhetische Geste" die Ausdrucksform des Dazwischen ist und das "ästhetische Denken" vielleicht manchmal ohne Worte auskommen muss.


Text: Urs Küenzi


Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Gesprächen mit den Künstlerinnen von Arthur Miranda, Tobias Gerber, Simone Pallecchi und Michèle Novak sowie Texten von Pascal Geissbühler und Urs Küenzi.


Ausstellungsdauer: 26.8. - 11.9.2004
Öffnungszeiten: Mi 18 - 22 Uhr (Bar), Do-Sa 14 - 18 Uhr
oder nach Vereinbarung


Les Complices*
Galerie & Edition
Anwandstrasse 9
8004 Zürich
Telefon 043 243 88 77
Email Info@lescomplices.ch

www.lescomplices.ch
www.likeyou.com/loredanasperini