© Philippe Rekacewicz

Philippe Rekacewicz: Migrations et frontières, 2006
(Migration und Grenzen), Karten


Kapitel 3: for example S, F, N, G, L, B, C - Eine Frage der Grenzziehung


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Konzeptioneller Ausgangspunkt der Thematischen Projektreihe "Kolonialismus ohne Kolonien? Beziehungen zwischen Tourismus, Neokolonialismus und Migration" ist die Annahme einer kolonialen Konstante - die gleichermassen für Staaten mit und ohne direkte koloniale Vergangenheit gültig ist - die durch wirtschaftliche und politische Machtgefüge re-produziert, durch Grenzregime aufrechterhalten wird und auf der Konstruktion eines kolonialen "Anderen" beruht. Hybride Formen der Zugehörigkeit zu einem staatlichen und kulturellen Kontext, führen unmittelbar zu Fragen der Einwanderungs- und Migrationspolitik. "for example S, F, N, G, L, B, C" möchte migrantische Bewegungen und Ein- und Ausschlussmechanismen in Bezug auf koloniale Handlungsmuster betrachten und fragen, inwieweit sich koloniale Praktiken in der Migrationspolitik fortsetzen.


In Zürich leben Menschen aus ca. 170 Nationen, ein Drittel der Wohnbevölkerung besitzt keinen Schweizer Pass. All diese bekommen einen so genannten Ausländerausweis S, F, N, G, L, B, C zugeteilt oder verfügen über "keine Papiere". Jeder Buchstabe eines Ausländerausweises formuliert Aufenthaltsrechte und damit eine Figur der Grenzsituation die Ein- und Ausschlussmechanismen markieren. Die Migrationsgeschichte der Schweiz, die mit über 20% einen der höchsten Anteile von Bevölkerung mit "Migrationshintergrund" innerhalb Europas aufweist, ist in den letzten Jahrzehnten bestimmt von politischen Debatten ob die Schweiz ein Einwanderungsland ist oder restriktiv ihre Grenzen in der "Festung Europa" stabilisieren muss. Die verschiedenen Konjunkturen der migrantischen Bewegungen führten immer wieder zu Debatten um einen Einwanderungsstopp.


Die Saisoniers, die überwiegend im Strassenbau und Tourismussektor gearbeitet und diesen kontinuierlich etabliert haben, sowie die "Gastarbeitermigration" aus Südeuropa, welche verstärkt in den 60er Jahren begann und die Schweizer Wirtschaft angekurbelt hat, führte in den 70ern im Zuge der Auseinandersetzung um die Einbürgerungen, zur Diskussion über "Überfremdung". In den 80ern steht, neben der Frage nach den Ausschluss- und Integrationsmechanismen der "Secondos" (zweite Generation), die Debatte um die Asylsuchenden im Vordergrund. Erneut wird von dem "vollen Boot" gesprochen. Während das Schweizer Aktionskomitee gegen den Schengen/EU-Beitritt noch im Sommer 2005 mit Parolen wie "Sicherheit verlieren? Arbeit verlieren?" in einer grotesken Bildsprache, die das Fürchten lehren soll, für eine generelle Abschottung der Schweiz auch gegen EU-Staaten (rund 60% der in der Schweiz lebenden Menschen ohne Schweizer Pass kommen aus der EU) warb, haben sich die Abgrenzungsbemühungen mittlerweile an die Grenzen der EU und darüber hinaus verschoben.


Der Prozess der europäischen Integration verschärft dabei bipolaren kolonialistisch geprägte Ein- und Ausschlussmechanismen, die sich auch an der aktuellen Verschärfung der so genannten Asyl- und Ausländergesetze ablesen lassen. Das den Regelungen zugrunde liegende "Zwei-Kreis-Modell" ermöglicht Zuwanderung aus EU-Staaten, verunmöglicht aber nahezu - abgesehen von Ausnahmeregelungen für Hochqualifizierte und eine Leistungsprominenz für welche die Arbeitsmärkte selektiv offen sind - den Zuzug aus so genannten "Drittstaaten". Parallel zum Beitritt zum Schengener Informationssystem (SIS) ab 2008, hat die Schweiz damit ein Gesetz angenommen, das auf Grund der Repressions- und Abschreckungsmassnahmen eher die Bezeichnung "Asylverhinderungsgesetz" verdient, welches in Teilen schwer vereinbar mit geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen beziehungsweise humanitären Traditionen der Schweiz ist, und das Land zu einer Festung innerhalb der "Festung Europa" macht - deren Grenzen aber nicht primär und ausschliesslich das Staatsgebiet markieren, sondern teilweise im Land selbst oder an, bzw. ausserhalb der Grenzen der EU liegen. Während durch die Ausweitung von Grenzregimen auf Nachbarstaaten der EU versucht wird, bereits "illegale" AUSwanderung zu verhindern (also noch ehe es zu einer EINwanderung kommen kann), werden im Inland für diejenigen, die es trotzdem geschafft haben "einzureisen", weitere Abgrenzungen eingeführt, die Persönlichkeitsrechte und Bewegungsfreiheit einschränken. Bürokratische und juristische Kategorisierungen wie die so genannten Ausländerausweise S, F, N, G, L, B, C in der Schweiz (zusätzlich des inoffiziellen Status Sans-Papiers) stellen eine Form des Aufenthaltsrechtes dar und damit eine Figur der Grenzziehung und -erfahrung, die bestimmte Ein- und Ausschlussmechanismen kennzeichnet und klassifiziert.


Die thematische Projektreihe "Kolonialismus ohne Kolonien?" möchte im dritten Teil migrantische Bewegungen in Bezug auf koloniale Handlungsmuster untersuchen. Nur ausschnitthaft und punktuell kann in diesem Projekt der Versuch unternommen werden, Abhängigkeitsstrukturen, rassistischen Tendenzen der Abgrenzung, sowie (post-) kolonialen Alltagsphänomenen in der Schweiz und Europa nachzugehen. Wer darf einreisen und wohin und zu welchem Zweck? Wie prägt und transformiert der migrantische Alltag die europäischen Metropolen? Welche Assimilierungsprozesse, identitätsstiftenden Phänomene oder interventionistischen Praxen werden formuliert und etabliert? Die Beteiligten des Projektes untersuchen Dynamiken und Phänomene der migrantischen Bewegungen im Spannungsfeld einer europäischen transnationalen Gesellschaft, die gegenwärtig wieder verstärkt von rassistischen und neopatriotischen Tendenzen infiltriert ist.


In Dialog steht diese Projektkonzeption mit "From /To Europe #3" (verlinkt zu From To), das sich mit der sozialen, ökonomischen, technologischen und geografischen Spaltung des Zugangs zum Datenverkehr, der Frage der Zugriffsmöglichkeiten im globalen Süden auf mediale Netzwerke und Kommunikationsstrukturen sowie mit der Frage nach den Rechten von Wissenseigentum in Bezug auf das globale Copyright-Regime auseinandersetzt.


Ein Projekt mit Franca Candrian, Cicero Egli und ACOR SOS Racisme, forschungsgruppe_f, Kanak TV, Brigitta Kuster und Moise Merlin Mabouna, Pia Lanzinger, Anne Lorenz und Rebekka Reich, Christian Mayer und Yves Mettler, Caterina Mona, Jesper Nordahl, Silvia Orthwein-Erhard und Daniel Usbeck, Philippe Rekacewicz, Oliver Ressler, Hanna Salzer und Philip Hofmänner, SCHLEUSER.NET, Sofie Thorsen, David Vogel, Diana Wyder


im Dialog "From/To Europe #3"
Roaming Around: Digital Divide, Regional Codes, Copy/South & the Question of Access
Jochen Becker/metroZones mit Agency (Kobe Matthys): quasi things • Balufu Bakupa-Kanyinda: afro@digital • Julien Enoka-Ayemba: "Nollywood" • herbstCamp Graz: Global Controll • SMAQ architecture urbanism research (Sabine Müller, Andreas Quednau): Mobile Kinshasa & display architecture


Ausstellungsdauer 4.11.2006 - 28.1.2007

Öffnungszeiten Mi/Fr 14 - 17 Uhr, Do 14 - 21 Uhr,
Sa/So 14 - 20 Uhr


Shedhalle
Rote Fabrik
Seestrasse 395
8038 Zürich
Telefon +41 (0)44 481 59 50
Fax +41 (0)44 481 59 51
Email info@shedhalle.ch

www.shedhalle.ch





Chapter 3: for example S, F, N, G, L, B, C - A Matter of Demarcation


The assumption of a colonial constant forms the conceptual starting point for the Thematic Project Series "Colonialism without Colonies? Relations between Tourism, Neo-Colonialism and Migration". Equally applicable to states with or without a direct colonial past, this colonial constant is reproduced through economic and political power structures, perpetuated through border regimes and based on the construction of a colonial "Other". Hybrid forms of belonging to a national and cultural context lead directly to questions of immigration and migration policy. for example S, F, N, G, L, B, C wishes to observe migration movements and the mechanisms of in- and exclusion in relation to patterns of colonial practice and ask to what extent colonial practices continue to be pursued today.


People from approximatly 170 nations live in Zurich; one-third of the resident population does not possess a Swiss passport. Every person is either assigned a so-called foreigner identity card S, F, N, G, L, B, C or has "no documents" at all. Each of the letters in a foreigner identity card stands for the residency rights granted and as the figure of a borderline situation marks the mechanisms of in- and exclusion. The history of migration in Switzerland, with over 20% home to one of the largest populations with "migration background" in Europe, has been determined over the last few decades by political debates as to whether Switzerland is a country of immigration or if it must restrictively stabilise its borders within "fortress Europe". The various booms in migrant movements have triggered repeated debates about the need to halt immigration.


The presence of seasonal workers, who worked mainly in the sectors of road construction and tourism, helping steadily to establish it as an important economic factor, and guest workers, who migrated from southern Europe in large numbers in the 1960s, stimulating the Swiss economy, led to debates about "Überfremdung" (infiltration of foreigners) in the 1970s. In the 1980s, in addition to the question of excluding or integrating the "secondos" (second generation), the debate about asylum seekers came to the fore. Once more there was talk of "the boat being full". While in the summer of 2005 the Swiss "Aktionskomitee gegen den Schengen/EU-Beitritt" (Action Committee against Schengen/EU Accession) was still campaigning for a general sealing off of Switzerland from EU states as well (around 60% of persons living in Switzerland without a Swiss passport come from the EU) - exploiting a grotesque, scaremongering visual language in slogans such as "Lose security? Lose your job?" - efforts to implement stricter border controls had in the meantime shifted to the external EU borders and beyond.


The process of European integration accentuates bipolar mechanisms of in- and exclusion which are formatively influenced by colonial practice and are evident in the current tightening of the so-called asylum and foreigner laws. The "two-sphere model" underlying these provisions enables immigration from EU states, but renders it practically impossible for third-country nationals to move to Switzerland - with exceptions being made for the highly qualified and prominent achievers for whom labour markets are selectively open. Parallel to joining the Schengen Information System (SIS) in 2008, Switzerland has thus adopted legislation that due to its repressive and deterrence measures should rather be called the "asylum prevention law": certain sections are difficult to reconcile with applicable international law and Switzerland's humanitarian tradition, turning the country into a fortress within the "fortress Europe", the borders of which however do not primarily and exclusively mark the territory of the state, but rather lie within the country itself or along/outside of the EU borders. Whereas extending the border regimes to neighbouring EU states attempts to prevent "illegal" emigration (hence before immigration can even come about), for those who have already managed to "enter" Switzerland, further restrictions have been introduced limiting personal rights and freedom of movement. Bureaucratic and judicial categorisations such as the so-called foreigner identity card S, F, N, G, L, B, C in Switzerland (besides the unofficial status "sans papiers") represent a form of residency right and hence a figure of demarcation and borderline experience which indicates specific mechanisms of in- and exclusion and thus enables classifications.


The third part of the Thematic Project Series "Colonialism without Colonies?" will investigate migration movements in relation to patterns of colonial practices. The project scope allows for only a brief and selective tracing of dependency structures, racist traits in sealing off borders and in drawing distinctions, and (post-)colonial phenomena in everyday life in Switzerland and Europe. Who is permitted entry and where to and for what purpose? How is the everyday life of migrants shaping and transforming European metropoles? Which assimilation processes, identity-forging phenomena or interventionist practices are being formulated and established? The project's participants examine the dynamics and phenomena of migrant movements in a field of tension marked out by a European transnational society which is currently being infiltrated once again by resurgent racist and neo-patriotic tendencies.


This project conception enters into dialogue with "From /To Europe #3", which examines the social, economic, technological and geographical divide in access to data traffic and addresses the issues of access facilities in the global South for media networks and communication structures and the rights of intellectual property in relation to the global copyright regime.


Projects by Franca Candrian, Cicero Egli and ACOR SOS Racisme, forschungsgruppe_f, Kanak TV, Brigitta Kuster and Moise Merlin Mabouna, Pia Lanzinger, Anne Lorenz and Rebekka Reich, Christian Mayer and Yves Mettler, Caterina Mona, Jesper Nordahl, Silvia Orthwein-Erhard and Daniel Usbeck, Philippe Rekacewicz, Oliver Ressler, Hanna Salzer and Philip Hofmänner, SCHLEUSER.NET, Sofie Thorsen, David Vogel, Diana Wyder


in dialogue with "From/To Europe #3"
Roaming Around: Digital Divide, Regional Codes, Copy/South & the Question of Access
Jochen Becker/metroZones with Agency (Kobe Matthys): quasi things • Balufu Bakupa-Kanyinda: afro@digital • Julien Enoka-Ayemba: "Nollywood" • herbstCamp Graz: Global Controll • SMAQ architecture urbanism research (Sabine Müller, Andreas Quednau): Mobile Kinshasa & display architecture


Exhibition 4 November 2006 - 28 January 2007

Opening hours Wed-Fri 2 - 5 pm, Thur 2 - 9 pm,
Sat/Sun 2 - 8 pm