© Galerie Zink & Gegner, München 2004

Yoshitomo Nara: Hunderd Fragen, 2004
Buntstift auf Briefumschlag, 11,8 x 23,5 cm
Courtesy Galerie Zink und Gegner, München
Foto: Wolfgang Pulfer, München
© Galerie Zink & Gegner, München 2004


Funny Cuts
Cartoons und Comics in der zeitgenössischen Kunst

Yoshitaka Amano, Ida Applebroog, Gianfranco Baruchello, Peter Blake, Angela Bulloch, William Copley, Marcel Dzama, Tim Eitel, Erró, Inka Essenhigh, Öyvind Fahlström, Richard Hamilton, Arturo Herrera, Pierre Huyghe, Hideaki Kawashima, Mike Kelley, Martin Kippenberger, Roy Lichtenstein, Kerry James Marshall, Matt Mullican, Takashi Murakami, Yoshitomo Nara, Julian Opie, Eduardo Paolozzi, Philippe Parreno, Raymond Pettibon, Sigmar Polke, Mel Ramos, Alexander Roob, Dieter Roth, Wilhelm Sasnal, Dorothea Schulz, David Shrigley, Thaddeus Strode, Hervé Télémaque, John Wesley, Sue Williams, Vadim Zakharov


Die wechselseitigen Einflüsse von bildender Kunst und dem Medium Comic waren seit dem ersten Erscheinen von Comic Strips am Ende des 19. Jahrhunderts vielseitig. In den 1950/60er Jahren setzt jedoch mit der britischen und amerikanischen Pop Art eine künstlerische Auseinandersetzung ein, die im Aufsehen erregenden Zitieren von Comic-Motiven der bildenden Kunst neue Ausdrucksmöglichkeiten hinzugewinnen möchte.


So plädiert Richard Hamilton dafür, die "Trivialkunst (zu) plündern", um das "visuelle Material" des Künstlers zu bereichern. In seiner Collage "Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?" verdrängt der "Bildermüll" der Unterhaltungskultur das traditionelle Tafelbild. Die Faszination des visuellen Fundus der (vornehmlich amerikanischen) Konsumgesellschaft vermittelt sich auch in Eduardo Paolozzis Collagen seit den 1940er Jahren, die er 1972 im Portfolio "BUNK" (dt. Quatsch, Unsinn) publizierte. Während die Kritik an Comics als Lesestoff für Kinder Mitte der 1950er Jahre immer lauter wurde und international entsprechende Zensurmassnahmen getroffen wurden, rückte Peter Blake deren kindheitsprägenden Bildkosmos in den Mittelpunkt seines Gemäldes "Children Reading Comics". In die vorderste Bildebene gerückt, teilt sich dem Betrachter die Suggestionsmacht jener Hefte innerhalb der Welt der Kinder ganz unvermittelt mit.


Auch Mel Ramos' Gemälde feiern die Idole seiner Kindheit, die Superhelden aus der Blütezeit des amerikanischen Comics in den 1940er Jahren. Der pastosen Malweise korrespondiert die physische Präsenz der Figuren, die dem Betrachter frontal gegenübertreten und die Leinwand fast zu sprengen drohen. Roy Lichtenstein konzentriert sich zur gleichen Zeit auf Einzelbilder (Panels) aus "anonymen" Comics, oftmals mit dramatischen Kriegs- oder Liebesszenen. Er verändert die Vorlagen inhaltlich und formal so weit, dass seine Werke zu einer allgemeingültigen, "klassischeren" Form gegenüber den Comic-Vorbildern finden. Vereinzelung und Ästhetisierung führen insofern hier wie bei Ramos zur "ikonenhaften" Aneignung der Comic-Bildwelten.


Prägnante Umrisslinien und monochrome Flächen übersteigern in den Bildern von John Wesley die grafischen Merkmale des Comic Strips. Die dargestellten Figuren entstammen "Blondie" bzw. "Popeye", seit den 1930ern die populärsten Familien-Strips in den USA. Ihre Vertrautheit wird jedoch durch die extreme Stilisierung ins Unheimliche gewendet. William Copleys Zeichnungen erzählen mit einem gleichbleibenden stilisierten Figurenrepertoire, verwandt dem des Comic Strips, Geschichten voll subversiv-sexueller Anzüglichkeit.


Die Künstler der Narrativen Figuration in Frankreich zitieren Comics und andere Medienbilder mit einem gesellschaftskritischen Anspruch. Hervé Télémaque nimmt in seinem Gemälde "One of the 36 000 Marines over our Antilles" auf ein konkretes politisches Ereignis Bezug. Er vereint eine Fülle unterschiedlicher Motive mithilfe klarer Konturen und grossflächiger Monochromien, die der "Ligne claire" des belgischen Comic-Zeichners Hergé Referenz erweisen. Die visuelle Reizüberflutung in der Konsumgesellschaft thematisiert Erró in seinen malerischen Collagen. "Comicscape" versammelt zahllose, fröhlich-anarchische Comic-Charaktere, die hier ihren eigenen, scheinbar unendlich fortsetzbaren Kosmos begründen. Nicht zuletzt spiegelt das Werk die französische Begeisterung für die "Bandes dessinées" wider, deren Einfluss auf die Narrative Figuration bereits 1967 in einer Pariser Ausstellung gewürdigt wurde.


Comics als Subversion: Für Öyvind Fahlström stellen Comics eine visuelle Sprache dar, die veränderbar, manipulierbar ist. In "The Cold War" fügt er Comic-Fragmente zu einem "Bild der Welt". Deren Kräfteverhältnisse - zwischen Ost und West - sind wandelbar, indem der Betrachter (theoretisch) die magnetischen Bildfragmente bewegen und somit stets neue Konstellationen und Bilder generieren kann. Gianfranco Baruchello ordnet in seinem cartoonhaft einfach gemalten Gemälde Bild- und Textfragmente aus diversen Quellen zu Sequenzen; in der (Bedeutungs-)Offenheit der Erzählung stehen diese gleichwohl im Gegensatz zum Comic Strip. Matt Mullican dekonstruiert die Bildwelten des Comics als Ausschnitte eines "imaginären Universums", in das er mittels der Fragmentierung "eintaucht".


Ähnlich Fahlström begreifen die Dichter der Konkreten Poesie in den 1950/60er Jahren Comics als international verständliche Bildsprache. Die Noigandres-Gruppe lässt auf dem Titel einer Anthologie verschiedene Comic-Charaktere auftreten, u.a. den populären Höhlenmensch Alley Oop. Die Situationistische Internationale setzt dagegen in ihren Publikationen "zweckentfremdete" Comic Strips als subversives Agit-Prop-Material ein. Dieter Roths Künstlerbuch "BOK 3 b" zeichnet sich indessen gerade durch seine Unlesbarkeit aus und steht insofern im künstlerischen Kontext seiner radikalen Verarbeitung von Büchern zu "Literaturwürsten".


Sigmar Polke gibt Lucky Luke, den Cowboy, der "schneller zieht als sein Schatten", mittels einer Schablonenform nur in seiner charakteristischen Silhouette wider; er bricht die Wirkungsmacht der Comic-Motive durch vielfältige malerische Verfahren. Auch Martin Kippenberger verarbeitet das Bildrepertoire des Alltags auf ironische Weise. Ihn inspiriert das Schwarzweiss einer Graphik von Polke zu Variationen eines politisch unkorrekten Witzes, die durch Abwandlungen des anarchischen, anti-intellektuellen Comic-Charakters Werner artikuliert werden.


Die "unter dem Ladentisch" gehandelten Sex to Sexty-Hefte mit anzüglichen Cartoons konfrontierten Mike Kelley in seiner Kindheit mit Sexualität sowie mit den fremdartigen und farbenfroh-anziehenden Bildwelten des Comics. Diese faszinierenden, doch lückenhaften Kindheitserinnerungen thematisiert er in "Missing Time Color Exercise #1".


Sexualität, Gewalt und gesellschaftliche Subkulturen sind zentrale Themen in den Zeichnungen von Raymond Pettibon. Durch die Bild-Text-Struktur, den erzählerischen Gehalt und ein wiederkehrendes inhaltliches Repertoire verweisen sie auf das Medium Comic, ohne dass jedoch - wie im Comic Strip - Bild und Text semantisch ineinandergreifen. In der Verwendung filmischer Stilmittel reflektieren die Zeichnungen auch die künstlerischen Wechselwirkungen zwischen Comic Strips und dem Film. Kelleys, Pettibons und auch Thaddeus Strodes Werke stehen durch ihre erzählerischen Strukturen und subversiven Inhalte im Gegensatz zu jenen der Pop Art-Künstler, die sich die Comic-Motive "ikonenhaft" aneigneten. Vielmehr hallen in ihrer Auseinandersetzung Impulse der Undergroundcomics wider, die das Medium seit den 1960er Jahren zum (Zerr-)Spiegel der gesellschaftlichen Realität machten.


Formal und inhaltlich radikal abgewandelt wird das Vorbild Comic Strip in den Werken von Ida Applebroog, die in vereinfachter stereotyper Bildsprache das alltägliche, scheinbar intakte und gleichwohl oft gewaltgeprägte Verhältnis zwischen Mann und Frau thematisieren. Expliziter noch stellt Sue Williams häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch von Frauen in einer cartoonhaft abstrahierten Formensprache dar. In ihren jüngsten Werken lösen sich die Formen kalligrafisch auf und loten somit auch die Grenzen zwischen Figuration und Abstraktion aus. In ähnliche Grenzbereiche stösst Arturo Herrera mit den chaotisch ineinander verschlungenen Formen seiner Collagen vor. Jedoch bezieht er sich mit Fragmenten aus Comic- und Kindermalbüchern auf eine kindliche, in unserem visuellen Unterbewusstsein verankerte Bildwelt.


Neue Bildwelten, individuelle Erzählungen: Wilhelm Sasnal adaptiert in seinen Gemälden Einzelbilder aus Art Spiegelmans berühmtem autobiografischen Comicbuch "Maus. A Survivor's Tale" (1986) und spielt damit zugleich auf antisemitische Tendenzen im Polen der 1990er Jahre an. Auch Kerry James Marshall reflektiert in seinem Comic-Projekt "RYTHM MASTR" konkrete gesellschaftliche Bedingungen, waren doch ethnische Minoritäten im kommerziellen Comic jahrzehntelang unterrepräsentiert.


Angela Bulloch entnimmt einem italienischen Erotik-Comic einzelne Bilder, dessen ("verbotenen, geschwärzten") Szenen vom Betrachter allein mithilfe der sichtbar belassenen Lautmalereien imaginiert werden. Die bildgenerierenden Lautmalereien des Comics glossiert Vadim Zakharov in seinem "Wörterbuch des nonverbalen Wortschatzes" und hebt damit ironisch die im kultivierten Sprachgebrauch verschmähten "Pengwörter" auf die Ebene der Linguistik.


Die Zeichnungen Marcel Dzamas, David Shrigleys, Dorothea Schulz' und Alexander Roobs verdeutlichen jeweils unterschiedliche Herangehensweisen an das Medium Comic. Während die gestalterische Strenge Marcel Dzamas an die "Ligne claire" erinnert, orientieren sich die humorvollen Einzelblätter David Shrigleys an Cartoons. Formal und inhaltlich geradezu auseinander zu driften scheinen Bild und Text in den Werken von Dorothea Schulz. Alexander Roob verleiht dagegen der Zeichnung, über die Möglichkeiten des Comic Strips hinausgehend, als Instrument der unmittelbaren Wirklichkeitserfassung erneute Aktualität.


In den Zeichnungen von Yoshitomo Nara wird das japanische Ideal der Niedlichkeit (Kawaii), das die extrem populären japanischen Comics (Manga) kennzeichnet, erfüllt und zugleich gebrochen. Seine vordergründig niedlichen Geschöpfe sind einsam, häufig aggressiv oder verletzt, und suggerieren den Blick auf die Welt aus der Perspektive eines (nonkonformistischen) Kindes. Im eigens für die Stuttgarter Ausstellung entworfenen Pavillon wird diese poetisch-subjektive Weltsicht verdichtet erfahrbar; zugleich verweist die Präsentation auf die Fortsetzung der Ausstellung im Obergeschoss, deren Schwerpunkt der Einfluss von Manga und Anime auf die aktuelle Kunst bildet.


In Julian Opies Computeranimation tritt an die Stelle der Comic-typischen räumlich sequentiellen Bildfolge die zeitlich sequentielle Bewegung der Animation, die sich zugleich an die visuelle Sprache der Waren- und Werbewelt anlehnt.


Die verzerrten, verkürzten Körper in Inka Essenhighs Gemälden erinnern an die gewalttätigen Deformierungen der Figuren in Disney-Filmen. In ihrer dekorativen Flächigkeit lassen sie auch an traditionelle japanische Holzschnitte denken und deren "fliessend vergängliche (Bild-)Welten", die ihrerseits in der japanischen Comic-Kultur von Manga und Anime-Film widerhallen.


Die Werke von Hideaki Kawashima, Yoshitaka Amano und Takashi Murakami verraten die starke visuelle Prägung durch Manga und Anime-Film. Während in Kawashimas Darstellung wiederum Niedlichkeit und Abgründigkeit aufeinandertreffen, setzt Amano suggestive kommerzielle Figurenerfindungen in stilisierte Acryl- und Lackmalereien um, damit an traditionelle japanische Kunstformen anknüpfend. Murakamis Bilder entsprechen mit ihren glatten Oberflächen seinem Leitsatz, alle zeitgemässe Kunst müsse "superflat" sein, mithin den Rezeptionsgewohnheiten der mit den "flachen" Bildwelten des Computers aufgewachsenen Jugendlichen entsprechen. Den Siegeszug dieser von Manga und Anime inspirierten Bildwelten im Westen scheint Tim Eitel in seinen Museumsbildern lakonisch zu konstatieren.


Eine "ausrangierte" Manga-Figur steht schliesslich im Mittelpunkt des Gemeinschaftsprojekts "No Ghost Just a Shell" von Pierre Huyghe und Philippe Parreno. Sie kauften 1999 von einer japanischen Agentur das Copyright und Urbild (d.h. die Daten) für den Charakter AnnLee. In verschiedenen Videofilmen entwickelten sie jeweils individuelle Geschichten AnnLees, in denen sich Aussehen und Eigenschaften des Mädchens stets aufs Neue verändern. Damit steht Huyghes und Parrenos Projekt nicht zuletzt für die neuen Möglichkeiten visuellen Erzählens in der Kunst, die sich aus den neuen Bildwelten von Manga und Anime-Film speisen.


Ausstellungsdauer: 4.12.2004 - 17.4.2005
Oeffnungszeiten: Di, Mi, Fr-So 10 - 18 Uhr, Do 10 - 21 Uhr
Montags geschlossen


Staatsgalerie
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