© Nachlass Helmar Lerski, Museum Folkwang, Essen

Metamorphose, 1936
© Nachlass Helmar Lerski, Museum Folkwang, Essen


Helmar Lerski
Metamorphose



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Kaum ein Werk der internationalen Fotografiegeschichte wurde so häufig missverstanden und so kontrovers beurteilt wie dasjenige von Helmar Lerski (1871-1956). "In jedem Menschen ist alles; die Frage ist nur, worauf das Licht fällt" - dieser Überzeugung folgend, schuf Lerski Porträts, die nicht in erster Linie nach Ähnlichkeit strebten, sondern vor allem Spielraum für die Fantasien der Betrachter boten. Damit setzte sich Lerski lange Zeit dem Vorwurf aus, die Wahrheit des fotografischen Bildes zu verraten. Heute gehört der 1871 in Strassburg geborene Lerski (eigentlich Israel Schmuklerski), dessen Heimatstadt Zürich war, zu den internationalen Klassikern der Fotografiegeschichte.


1876 liess sich die Familie Schmuklerski in Zürich-Aussersihl nieder. Helmars Vater, ein kleiner Textilunternehmer, erhielt "als erster polnischer Jude" das Zürcher Bürgerrecht. 1888 brach Lerski aus der für ihn vorgesehenen Bankierkarriere aus. Er wanderte in die USA aus und schlug sich als Schauspieler durch. Um 1910, erst mit 39 Jahren, kam er durch seine Frau - eine Schauspielerin, die aus einer Fotografenfamilie stammte - zur Fotografie. Seine aussergewöhnlichen, mit Lichteffekten arbeitenden Porträts fanden in den USA bald grosse Beachtung.


1915 kehrte Lerski nach Europa zurück und wandte sich dem Film zu. Während mehr als zehn Jahren arbeitete er in Berlin als Kameramann, Beleuchter und Experte für Spezialeffekte bei zahlreichen expressionistischen Stummfilmen mit, unter anderem bei Fritz Langs "Metropolis" (1925/26). Ende der zwanziger Jahre befasste er sich erneut mit der Porträtfotografie und fand sogleich Anschluss an jene Avantgarde, welche die fotografische Bildsprache in radikaler Weise erneuern sollte. An der legendären Werkbundausstellung "Film und Foto" (1929), mit der die Neue Fotografie zunächst in Stuttgart, anschliessend auch in Zürich ihren ersten grossen Auftritt feierte, war Lerski - inzwischen einer der bekanntesten Bildnisfotografen seiner Zeit - mit 15 Bildern sehr gut vertreten.


Lerskis Aufnahmen folgten allerdings nur bedingt den Maximen der Neuen Fotografie und stellten die reine Sachlichkeit in Frage. Zu den besonderen Merkmalen seiner Porträts gehört eine theatralisch-expressionistische, zuweilen pathetisch wirkende Lichtführung, die vom Stummfilm inspiriert war. Seine Nahaufnahmen hielten das Wesentliche eines Gesichts fest - Augen, Nase, Mund. Aber es ging ihm dabei nicht um die individuelle Erscheinung, nicht um die oberflächliche Ähnlichkeit, sondern um das tieferliegende, innere Potential: er betonte die Wandelbarkeit, die verschiedenen Gesichter eines Individuums. Damit unterwanderte Lerski, der mit der politischen Linken sympathisierte, auch die von manchen Zeitgenossen betriebene (und nicht selten rassenideologisch missbrauchte) Typenfotografie.


Im Buch "Köpfe des Alltags" (1931), einem Meilenstein in der Geschichte der Fotografie-Bücher, brachte Lerski seine Überzeugung deutlich zum Ausdruck: er zeigte darin anonyme Menschen aus der Unterschicht der Berliner Gesellschaft, setzte sie aber wie Bühnenfiguren in Szene, so dass Berufsbezeichnungen wie "Stubenmädchen", "Bettler" oder "Textilarbeiterin" wie zufällig aufgesetzte Rollen erscheinen. So sind denn seine Bilder auch als eine wichtige Gegenposition zur Fotografie von August Sander zu verstehen, der zur gleichen Zeit an seinem Projekt "Menschen des 20. Jahrhunderts" arbeitete - jenem grossangelegten Versuch einer sozialen Verortung verschiedener Vertreter der Weimarer Gesellschaft.


Am radikalsten vertrat Helmar Lerski seine Haltung jedoch in der Arbeit "Metamorphose". Sie entstand innert weniger Monate zu Beginn des Jahres 1936 in Palästina, wohin Lerski 1933 mit seiner zweiten Frau Anneliese ausgewandert war. In den "Verwandlungen durch Licht" (so der zweite Titel der Arbeit) trieb Lerski seine Inszenierungskunst auf die Spitze. Mit bis zu 16 Spiegeln und Blenden lenkte er das natürliche Licht der Sonne in immer neuen Variationen und Brechungen auf sein Modell, den aus Bern stammenden, damals arbeitslosen Bauzeichner und Leichtathleten Leo Uschatz. So erreichte er in einer Serie von über 140 Nahaufnahmen, dass einem einzigen "Originalgesicht hundert verschiedene Gesichter, darunter das eines Helden, eines Propheten, eines Bauern, eines sterbenden Soldaten, einer alten Frau, eines Mönchs" entstiegen (Siegfried Kracauer).


Die "Metamorphose" sollte gemäss Lerski den Beweis liefern, "dass das Objektiv nicht objektiv zu sein braucht, dass der Fotograf, der Lichtbildner, mit Hilfe eben dieses Lichts frei schaffen, frei charakterisieren kann, nach seinem inneren Gesicht". Im Gegensatz zur herkömmlichen Vorstellung vom Porträt als Ausdruck menschlicher Identität machte Lerski das Gesicht zur Projektionsfläche, auf die er die Gestalten seiner Fantasie projizierte. Die Modernität der für seine Zeitgenossen provokativen Bildserie wird uns erst heute richtig bewusst.


Nach dem Krieg kehrte Helmar Lerski mit seiner Frau Anneliese nach Zürich zurück und beschäftigte sich wieder mit Filmprojekten. Verschiedene Versuche, sein Hauptwerk "Metamorphose" zu publizieren, scheiterten - dies, obschon sich namhafte Kunsthistoriker wie zum Beispiel Konrad Farner dafür einsetzten: Farner verglich Lerskis Bedeutung mit jener von Alfred Stieglitz, Edward Steichen oder Paul Strand. Heute ist sich die Fachwelt darüber einig, dass Helmar Lerski zu den wichtigen Innovatoren in der Fotografie des 20. Jahrhunderts zählt. In der Schweiz, Lerskis Heimat, ist sein Name einem breiteren Publikum aber kaum mehr bekannt. Mit der von der Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang, Essen, übernommenen Ausstellung ruft die Fotostiftung Schweiz einen Klassiker in Erinnerung, der zu Unrecht verdrängt und vergessen wurde.


Peter Pfrunder
Fotostiftung Schweiz


Das Buch zur Ausstellung: Florian Ebner, Metamorphosen des Gesichts. Die "Verwandlungen durch Licht" von Helmar Lerski. Steidl Verlag, Göttingen 2002.


Ausstellungsdauer: 12.3. - 22.5.2005

Oeffnungszeiten: täglich 11 - 18 Uhr, Mi 11 - 20 Uhr
Montag geschlossen


Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45
8400 Winterthur
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www.fotostiftung.ch





Helmar Lerski
Metamorphosis



There can hardly be another name in the international history of photography whose work has been so frequently misunderstood and so controversially evaluated as that of Helmar Lerski (1871-1956). "In every human being there is everything; the question is only what the light falls on". Guided by this conviction, Lerski took portraits that did not primarily strive for likeness but which left scope for the viewer's imagination, thus laying himself open to the criticism of betraying the veracity of the photographic image. Today, Lerski who was born in Strasbourg in 1871 as Israel Schmuklerski and whose hometown was Zurich, is among the international classic photographers in the history of the medium.


The Schmuklerski family settled in Zurich in 1876. Helmar's father, a small-time textile dealer, was "the first Polish Jew" to be granted the civil rights of the City of Zurich. In 1888, Lerski abandoned the banking career for which he was designated and immigrated to the USA, where he earned his living as an actor. It was not until 1910, when he was 39, that he became involved with photography through his wife, an actress from a photographer's family. His unusual portraits, which worked with lighting effects, attracted considerable attention in the USA.


In 1915 Lerski returned to Europe and started a career in cinematography. For over ten years, he worked as a cameraman, lighting technician and expert on special effects for numerous expressionistic silent films in Berlin, among others Fritz Lang's "Metropolis" (1925/26). At the end of the 1920s, he turned his attention once again to portrait photography and took part in the avant-garde movement that was trying to effect radical changes in the language of the photographic image. At the legendary Werkbund exhibition "Film und Foto" (1929), at which the New Photography made its greatest appearance at first in Stuttgart and subsequently in Zurich, Lerski - who had in the meantime become the best-known portrait photographer of his time - was well represented with 15 photographs.


But Lerski's pictures were only partly in line with the maxims of the New Photography, and they questioned the validity of pure objectivity. The distinguishing characteristics of his portraits included a theatrical-expressionistic, sometimes dramatic use of lighting inspired by the silent film. Although his close-up photographs captured the essential features of a face - eyes, nose and mouth -, his primary concern was not individual appearance or superficial likeness but the deeper inner potential: he emphasised the changeability, the different faces of an individual. Lerski, who sympathised with the political left wing, thereby infiltrated the photography of types that was practised (and not infrequently misused for racist purposes) by many of Lerski's contemporaries.


In his book "Köpfe des Alltags" (1931), a milestone in the history of photographic books, Lerski clearly expressed his convictions: he showed portraits of anonymous people from the underclass of the Berlin society, presenting them as theatrical figures so that professional titles such as "chamber maid", "beggar" or "textile worker" appeared as arbitrarily applied roles. Thus his photographs may be interpreted as an important opposite standpoint to the work of August Sander, who was at the same time working on his project "Menschen des 20. Jahrhunderts" - that large-scale attempt at a social localisation of various representatives of the Weimar society.


But Helmar Lerski's attitude was at its most radical in his work entitled "Metamorphosis". This was completed within a few months at the beginning of 1936 in Palestine, to where Lerski and his second wife Anneliese had immigrated in 1932. In "Verwandlungen durch Licht" (this is the second title for this work), Lerski carried his theatrical talent to extremes. With the help of up to 16 mirrors and filters, he directed the natural light of the sun in constant new variations and refractions onto his model, the Bernese-born, at the time out-of-work structural draughtsman and light athlete Leo Uschatz. Thus he achieved, in a series of over 140 close-ups "hundreds of different faces, including that of a hero, a prophet, a peasant, a dying soldier, an old woman and a monk from one single original face" (Siegfried Kracauer).


According to Lerski, these pictures were intended to provide proof "that the lens does not have to be objective, that the photographer can, with the help of light, work freely, characterise freely, according to his inner face". Contrary to the conventional idea of the portrait as an expression of human identity, Lerski used the human face as a projection surface for the figures of his imagination. We are only just becoming aware of the modernity of this provocative series of photographs.


After the war, Helmar Lerski returned to Zurich with his wife and started working again on film projects. Various attempts at publishing his main work "Metamorphosis" failed - despite the support of renowned art historians such as Konrad Farner who compared Lerski's importance with that of Alfred Stieglitz, Edward Steichen and Paul Strand. Today, the professional world is agreed that Helmar Lerski was among the important innovators of 20th century photography. But in Switzerland, Lerski's home, his name is barely known to the wider public. With the exhibition borrowed from the photographic collection at the Folkwang Museum in Essen, the Fotostiftung Schweiz pays homage to a classical figure of photography who has been most unjustifiably suppressed and forgotten.


Peter Pfrunder
Fotostiftung Schweiz


The book of the exhibition: Florian Ebner, Metamorphosen des Gesichts. Die "Verwandlungen durch Licht" von Helmar Lerski. Steidl Verlag, Göttingen 2002.


Exhibition: 12 March - 22 May 2005
Opening hours: daily from 11am - 6pm, Wed 11am - 8pm
Closed on Mondays