© Cora Piantoni

Cora Piantoni: "Schöne Grüsse aus...", 2002/2004
Diashow, 80 Motive


Höhenunterschied 27 cm
Ein Austausch zwischen München und Zürich

Stefan Burger, Claudia Caprez, Heike Döscher, Corinne Englert, Ina Ettlinger, Erika Krause, Stefan Meier, Cora Piantoni, Christian Ratti, Claudia Wieser


Der Ausstellungstitel bezieht sich auf die unterschiedlichen Referenzhorizonte, die in Deutschland und der Schweiz als Grundlage für Höhenangaben dienen: der deutsche bezieht sich auf die Meereshöhe der Nordsee, der schweizerische auf jene des Mittelmeers. Diese 27 cm Niveauunterschied muten wie eine ironische Versinnbildlichung der verwaltungstechnischen, politischen und kulturellen Unterschiede zwischen der neutralen Schweiz und dem benachbarten EU- und NATO-Land Bundesrepublik an.


Im Juni wird unter diesem Titel im Münchener Hauptbahnhof der erste Teil eines Austauschprojekts von Absolventen der Akademie der Bildenden Künste München und der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich stattfinden. Der zweite Teil folgt demnächst in einem Zürcher Bahnhof.


Die Initiatorin des deutsch-schweizerischen Projektes, Cora Piantoni, hat an beiden Hochschulen studiert und wollte die dabei entstandenen Erfahrungen und Kontakte in einem Ausstellungsprojekt zusammenführen, das nicht im üblichen musealen Rahmen stattfindet, sondern in einem temporären, flexiblen und vor allem öffentlichen Umfeld entwickelt wird.


Die Bahnhöfe als Ausstellungsorte sind zum einen ganz reale Mo(nu)mente der Verbindung zwischen den beiden Städten. In einem weiteren Sinne sind es Orte, die allgemein für Beziehungen, Austausch, Reise, Fernweh und andere Sehnsüchte stehen können.


Der Hauptbahnhof München ist das Paradigma eines öffentlichen Raumes, zentral in der Stadt gelegen wird er täglich von über 300'000 Reisenden und Passanten durchquert und fungiert als eine Art Umspannwerk zwischen dem europaweiten Eisenbahnnetz und der Stadt, gleichzeitig konkreter Ort und blosser Knoten sich kreuzender Linien. Als stetes Versprechen, jederzeit anderswo hin gelangen zu können, ist der Bahnhof vor allem auch ein Ort höchster Intensität, an dem der Besucher die Möglichkeit spürt, anderswo anders zu sein.


In unterschiedlichsten Techniken setzen sich die Künstler- und Künstlerinnen jeweils mit diesem speziellen Ort und seiner Öffentlichkeit, mit dem Verhältnis von München und Zürich sowie mit den Positionen und Arbeitsweisen der anderen Teilnehmer auseinander.


2000 hatten Karl Gölkel, Erika Krause, Nicoletta Milleter und Cora Piantoni ein ähnliches Projekt initiiert und organisiert, bei dem unter dem Titel "Gestrandet" elf Schiffscontainer als temporäre Ausstellungsmodule quer über den Münchener Odeonsplatz verteilt waren.


Auch bei dem Projekt "Höhenunterschied 27 cm" gibt es mehrere Spielorte: der angemietete Laden am Holzkirchener Flügelbahnhof gegenüber Gleis 11 wird ergänzt durch einen Laden und zwei Schaufenster im nördlichen S-Bahn Zwischengeschoss, die die Deutsche Bahn zur Verfügung stellt.


Die Arbeiten der insgesamt zehn Zürcher und Münchener Künstler- und Künstlerinnen lassen sich grob nach drei Hauptinteressen aufteilen: bezogen auf das Verhältnis Zürich-München zum einen, auf den konkreten Ort Hauptbahnhof München zum anderen, und schliesslich allgemeiner bezogen auf den Sehnsuchts- bzw. Möglichkeitsort Bahnhof.


Zur ersten Gruppe gehört die Gemeinschaftsarbeit von Corinne Englert und Cora Piantoni (Laden Gleis 11), "Der Löwe und das Kind". In einer Fotoserie treffen hier in verschiedenen Situationen das Zürcher Stadtwappentier, der Löwe, und das Münchener Kindl zusammen. Die Bilder spielen friedliche oder konfliktreiche Versionen, Siege und Niederlagen durch, und oszillieren dabei munter zwischen Daktari, Tierfrieden (Jesaja 11, 6) und römischer Arena zur Christenverfolgung.


Corinne Englerts Soloarbeit an der Ladenfassade beschäftigt sich mit den Eigenheiten der deutschen Sprache. Die Floskel "mach es gut" wird zur Verabschiedung häufig verwendet . Sie ist sowohl Befehl als auch Wunsch. Der Verabschiedende hält die angesprochene Person dazu an, es gut und nicht besser zu machen.


Claudia Caprez hingegen untersucht ein lokalspezifisches Phänomen, das nicht vom Menschen gemacht ist: die (Sonnen-) Lichtmilieus in München und Zürich. Die Ergebnisse werden in einem "solaren Austausch" erfahrbar: das Zürcher Licht schreibt sich in München ein, und umgekehrt.


Auch Stefan Meier beschäftigt sich mit Lichtverhältnissen, jedoch nicht im Gegensatz München-Zürich, sondern konkret mit jenen im Zwischengeschoss des Hauptbahnhofs. Für "Die magische Vitrine" ordnet er in einem Schaufenster Dutzende von Leuchstoffröhren skulptural an: allerdings mit der Lichtfarbe Tageslicht. In der sonst vom Grün-Orange herkömmlicher Fluoressenzröhren beleuchteten Unterführung wird der Widerschein an Boden und Wänden den Eindruck eines Aussenfensters erzeugen und so den Raumeindruck subtil aber grundsätzlich verändern. Passage statt Unterführung.


Ganz konkret mit dem Bahnhof und seinen Besuchern setzt sich "Burgis Bölleli Bollwerk" von Stefan Burger auseinander. Schon einige Tage vor der Ausstellungseröffnung werden im temporären "Burgis Bölleli-Büro" zahlreiche gebrannte Ton-Bölleli (Boller, Kugeln) unterschiedlicher Grösse und Form hergestellt und an verschiedenen Stellen im Bahnhof in Umlauf gebracht. Reisende werden angewiesen, die Bölleli am Zielort abzugeben, im Zug zu deponieren oder sonstwo unterzubringen. Die Produkte, eine Dokumentation der Aktion sowie eine weitere Bölleliaktion werden zur Eröffnung vor Ort zu sehen sein.


Heike Döscher greift im Inneren des Ladens im Zwischengeschoss die bizarr anmutenden Spuren früherer Nutzung auf: die pastellfarbenen Wandmalereien und Antragungen von Ziegelimitat werden von ihr teilweise verdoppelt und mit comichaften Elementen konterkariert. Der Laden wird zur Ausgrabungsstätte einer Archäologie des kommerziellen Populärgeschmacks der jüngsten Vergangenheit.


Claudia Wieser thematisiert mit ihrem Wandbild aus tapezierten schwarz/weiss-Kopien (Schaufenster im Zwischengeschoss) zum einen jene trivialisierten Dekorationen und Ornamente, die sich an die klassische, hochkulturelle Moderne anlehnen, zum anderen die Vorstellung vom Bild als Fenster in eine andere Welt - hier als Schau-Fenster zugespitzt. Darüber hinaus reflektiert die Arbeit auch den Bahnhof als Ort, der stets von Assoziationen, Hoffnungen und Bildern eines Zielortes eingefärbt ist.


Einen "Ausblick" schafft auch Erika Krause mit aus verschiedenfarbigen Folien gefertigten Schneidearbeiten, die auf Fensterflächen am Laden bei Gleis 11 gezeigt wird. Die zusammengesetzten, zum Teil überlagerten Elemente zeigen zum einen dicht gewachsene Pflanzen mit Früchten, zum anderen Ausschnitte aus vorgefundenen, journalistischen Bildern. Es sind asssoziative Verweise auf das "Ausserhalb" des konkreten Ortes, auf Natur als Gegensatz zur technisch geprägten urbanen Welt und auf das "grosse Weltgeschehen" als Gegensatz zur banalen Alltäglichkeit.


Im Laden zeigt Christian Ratti eine Videoarbeit, die sich mit den Engstellen des Eisenbahnsystems beschäftigt: Tunnels. Der Tunnel ist eine Einbahnstrasse des Lichts, von aussen gesehen eine Leerstelle (und als solche, wie alle Leerstellen, hypertrophiert an Tiefe und Bedeutung). Von innen gesehen beraubt er den Reisenden seines "panoramatischen Blicks" (Schivelbusch) und wirft ihn auf sich selbst zurück - und auf die Hoffnung auf das Vorübergehen des Zustands. "I see a light at the end of the tunnel now, / someone please tell me it's not a train" (Cracker).


Mit dem Blick des Reisenden setzt sich auch Cora Piantoni auseinander. In typischer Touristenpose lässt sie sich vor diversen Gebäuden und Ensembles fotografieren - allerdings nicht vor Eiffelturm und Sacré Coeur, Limmatquai und Grossmünster, Frauenkirche und Siegestor. Statt dessen posiert sie vor den vergessenen, marginalisierten Orten der städtischen Peripherie und entdeckt bzw. beschreibt so eine Reihe baulicher Objekte und Ensembles neu, während sie gleichzeitig den gängigen touristischen Blick unterläuft und ironisiert.


Ina Ettlinger schliesslich beschäftigt sich mit einem Leitfossil des Reisens überhaupt: dem Koffer bzw. Gepäck. Sie verwendet vorgefundene Kleidungsstücke, deren formale Struktur (Muster, Farbe, Form) sie auflöst bzw. verändert. Es entstehen den Mustern entsprechende plastische Formen, die aus den in Koffern und Taschen geborgenen Textilien wachsen, ein Eigenleben entwickeln und sich, Lovecraft'schen Tentakeln gleich, in den Raum hinein bewegen.


Text: Peter T. Lenhart


Ausstellungsdauer: 5. - 20.6.2004
Öfffnungszeiten: Mi-So 16 - 20 Uhr


Hauptbahnhof
Laden an Gleis 11 des Hauptbahnhofs
und Schaufenster im S-Bahn-Zwischengeschoss
D-München

www.likeyou.com/cora.piantoni


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