HYPERMENTAL
Wahnhafte Wirklichkeit 1950 - 2000
von Salvador Dali bis Jeff Koons

Die von Kuratorin Bice Curiger im Grossen Ausstellungssaal und dem Graphischen Kabinett zusammengestellten Werke umkreisen "Mentales", einen Denkraum, der zugleich rational und irrational, einen Pool zentraler Lebenserfahrung darstellt. Nicht Stilgeschichte und Epochengliederung, auch nicht die lineare Erzählung einer kunstgeschichtlichen Entwicklung liefern dieser Ausstellung den äusseren Halt. In sechs Kapiteln soll die Frage nach dem Bewusstsein ins Zentrum gerückt werden, das Kunst schafft in der Reibung zwischen Innen und Aussen, zwischen Kollektiv und Einzelfall, zwischen Rationalität und Irrationalität.

Denn die Wirklichkeit findet im Kopf statt. Erfahrungen des Irrealen, Sur-realen, der konstruierten Realität prägen unseren heutigen Alltag. Doch nicht erst seit das Virtuelle machtvoll von unserem Leben Besitz ergriffen hat, stellen Künstlerinnen und Künstler unser Realitätsverständnis auf die Probe. HYPERMENTAL deckt "post-surrealistische" Aspekte auf, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Werken verschiedenster Kunstrichtungen manifestieren. Ein Potential des Imaginären verbindet diese Bilder und Objekte - sowie ein ins Übertriebene, Verrückte gesteigertes Verhältnis zur Wirklichkeit.

Es ist die Kunst der Gegenwart und die kulturellen Debatten der vergangenen Jahrzehnte, die dazu verleiten, auf die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit einen frischen, gleichsam "anthropologischen" Blick zu werfen. Es genügt, sich die in den vergangenen fünfzig Jahren geprägten Schlagworte wie "Kalter Krieg", "Jugendbewegung", "Auflösen der Familienstruktur", "Digitalisierung", "Globalisierung", "Migration" usw. zu vergegenwärtigen und mit kühler Distanz die Kunst als Teil der sich verändernden modernen Welt zu betrachten. Die Impulse des Feminismus etwa, die unser Wahrnehmen und Urteilen unumstösslich verändert und beeinflusst haben, gilt es auf dem Feld der Phantasien und Wirklichkeitskonstruktionen mitzudenken, genauso wie die Einsichten über die Auswirkungen unserer "Mediengesellschaft".

"Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?" fragt Richard Hamiltons berühmte Pop-Ikone von 1956, in welcher Mikro- und Makrowelt, Intimität und Öffentlichkeit, eine Menge Markenprodukte sowie Mann und Frau als geschlechtlich überspannte Spezies sich ein Stelldichein geben und das neue Zuhause definieren.

Die medial geprägte Gesellschaft erzeugt kontinuierlich Hyperrealitäten - geradeso als hätte sich Salvador Dalís "paranoisch-kritische Methode" längst als omnipräsentes kollektives Halluzinationsritual eingebürgert. Und so fragt das erste Kapitel nach der Welt der Waren, der Medien, des schönen Scheins und der Vorspiegelungen. Es fragt nach den Menschen und ihren Beziehungen zu den Objekten und jenen Bildern die über diesen Objekten existieren und sich gemäss Guy Debord "gleichzeitig als das Gegenständlichste überhaupt aufdrängen". Hier vereint sind Werke von Richard Hamilton, Domenico Gnoli, James Rosenquist, Salvador Dalí, Duane Hanson, Jeff Koons, Richard Prince und Pipilotti Rist.

Immer wieder stellen nach dem Krieg neue Generationen von Künstlerinnen und Künstlern die Frage nach der Realität im Kopf und nach einem von aktiv auf passiv, verführen und verführt werden, lenken und gelenkt werden schaltenden Wechselstrom, der unsere Wahrnehmung der Welt massgeblich prägt.

Das zweite Kapitel führt uns in die sechziger und siebziger Jahre, als die Kunstwelt für einige ihrer Vertreter zu eng wurde, so dass sie in Happenings und aktivistischen, auf direkte Konfrontation mit dem Betrachter hinzielenden Gesten die Gesellschaft herausforderten. Wenn Manzoni auf unsere alte Weltkugel nicht nur symbolisch sondern tatsächlich einen Sockel montierte (in "Le socle du monde") oder Valie Export ihren Partner auf allen vieren an einer Hundeleine durch die Strassen Wiens führte, wenn Chris Burden sich in den Arm schiessen liess etc. geschah dies alles im mächtigen Bewusstsein eines Aufbruchs, der Leben und Kunst verschmelzen und die Gesellschaft verändern sollte.

Auch in der heutigen Zeit ist die gesellschaftliche Rolle der Kunst wieder vermehrt ins Blickfeld gerückt. In einer sich globalisierenden Welt werden die Werte der westlichen Kultur und Tradition neu hinterfragt, während Kunstwerke von Erik Bulatov, Soo Ja Kim, Robert Gober, Martha Rosler, aus ganz verschiedenen kulturellen Perspektiven von der Unbehaustheit des heutigen Menschen künden.

Im Blick zurück lassen sich im Spannungsfeld von Kunst und Bewusstsein Schlüsselfiguren erkennen: Marcel Duchamp, Salvador Dalí, Louise Bourgeois, Meret Oppenheim, Richard Hamilton, Bruce Nauman, James Rosenquist, Yayoi Kusama, Sigmar Polke, Duane Hanson, Cindy Sherman, Rober Gober.

Im dritten Kapitel wird mit Duchamps Wortspiel-Alter Ego Rrose Sélavy (ausgesprochen als Eros c'est la vie) auf die Geschlechterbeziehung, auf Eros und Körperlichkeit eingegangen. Aber auch auf die veränderte Rolle der Frau in der Kunst vom passiven Modell zur reflektierenden und provozierenden Akteurin. Neben Louise Bourgeois, Meret Oppenheim, Yayoi Kusama, Cindy Sherman, Pipilotti Rist sind hier Werke von Eric Fischl, Hans Bellmer, Felix Gonzalez-Torres, Matthew Barney und anderen zu sehen, die zuweilen bedrohlich düster, aber auch von verlockenden, befreienden, noch unbekannten Welten künden können.

Optische Täuschungen, geometrische Vexier-Spiele, die Psychedelik und Cybermystik, wie sie im vierten Kapitel umkreist werden, thematisieren die Kraft von Sinnestäuschungen oder Erfahrungen, welche eingeengte Denkmuster durchbrechen und herausfordern können. Vereint sind hier die unterschiedlichsten Werke etwa von Salvador Dalí, dem grossen Meister der optischen Illusionen, über Bridget Riley, einer neuerdings wieder entdeckten Malerin subtil vertrackter Op-Bilder, bis hin zu Mariko Moris futuristisch spirituellen Visionen und den fiebrigen, frühen skulpturalen Wucherungen von Fischli/Weiss.

Im fünften Kapitel sind viele Werke der jüngeren Generation vereint, zusammen mit solchen kunstgeschichtlicher Grössen wie James Rosenquist oder Jeff Wall. Immer ist die Wahrnehmung der Realität gefiltert und im Kaleidoskop der medialen Vermittlung präsentiert, sei es in den eindringlichen Lichtkästen von Wall oder den beunruhigenden räumlich-zeitlichen Inszenierungen von Olaf Breuning. Diese Künstlerinnen und Künstler beziehen sich auf Projektionsmuster und Bildvokabulare die mit verbindlicher Wucht auf etwas neuartig "Archetypisches" verweisen, auf eine psychische Realität, die uns zur zweiten Natur geworden ist.

Das sechste Kapitel entlässt die Besucherinnen und Besucher ins Weltall, um ihnen auch einen Blick in das Universum der kleinsten Teilchen, der Atome und Strahlungen zu gewähren. Vorstellbares trifft auf Unvorstellbares, und wieder ist uns Salvador Dalí mit seiner zugleich auf die Mikro- und die Makrowelt gerichtete Aufmerksamkeit sehr nah, etwa in Bildern wie "Nukleares Kreuz", 1952, oder "Die Hochgeschwindigkeits-Madonna von Raffael", 1954. Während Sigmar Polke Photo-Negative nicht belichtet sondern mit Uraniumgestein bestrahlt und wir uns über die betörend verführerischen Resultate wundern, hat John Bock ein krauses pseudowissenschaftliches Labor aus universalem Zivilisationsmüll aufgebaut.

Ausstellungsdauer: 17.11.2000 - 21.1.2001
Oeffnungszeiten: Di-Do 10 - 21 Uhr, Fr-So 10 - 17 Uhr

Kunsthaus Zürich
Heimplatz 1
8001 Zürich

www.kunsthaus.ch


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