© Keith Tyson

History Painting (April, Poipet), 2004
Polyurethanfarbe auf Aluminium, 94 x 187,5 cm
Polyurethane paint on aluminium, 37 x 73 3/4 in.


Keith Tyson
The Terrible Weight of History



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Es gibt 15 "History Paintings" von Keith Tyson, drei grossformatige und zwölf kleinere. Die Kleineren besitzen alle das gleiche Format und weisen innerhalb des Bildgevierts fixe Anordnungen von identischen, vertikalen Streifen auf. Die Streifen bestehen aus Aluminium und sind puderbeschichtet mit jeweils einer der drei Farben, schwarz, rot oder grün. Die ebenfalls aus Aluminium gefertigten Rahmen nehmen die gleiche grüne Farbe der Streifen auf. Die Farben entsprechen denjenigen auf einem Rouletterad. Die Reihenfolge der Farbstreifen und somit die Bildkomposition wurde durch das sukzessive Drehen des Rouletterads bestimmt. Wenn die Kugel auf einer schwarzen Nummer landete, wurde der Streifen schwarz, landete er auf einer roten Nummer rot und so weiter.


Insgesamt wurde der Vorgang für jedes Bild 49 Mal wiederholt. Dies verleiht den Bildern die Erscheinung von Plakatwänden, die aus vielen dreiseitig rotierenden Streifen gefertigt wurden. Diese Wahrnehmung wird dadurch verstärkt, dass die Farbe jedes vertikalen Streifens durch Zufall festgelegt wurde. Weil in keinem der vollendeten Gemälde ein erkennbares Muster auszumachen ist, ist die Versuchung gross, sich vorzustellen, dass die rotierenden Elemente drehten und aus der Synchronisation fielen, was zu den roten, schwarzen und grünen, ein wenig durcheinander geratenen Farben führte.


Die zwölf kleineren Bilder, die durch ihre Titel jeweils mit einem Monat des Jahres assoziert werden, stellen eine Art Kalender dar. Neben der Monatsangabe beinhalten die Titel einen Ortsnamen. Die Orte sind über die ganze Welt verteilt - Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika. Wenn wir nach einem rationalen, die Namen zusammenhaltenden System suchen, stellen wir fest, dass keines besteht. Neben Städtenamen finden sich Namen von Urlaubsorten, Distrikten und geographischen Wahrzeichen. Diese Vielfalt beinhaltet die Möglichkeit, dass die Referenzen spezifisch sind, auch wenn das Spezifische nicht unmittelbar einsichtig ist.


Einer der Titel lautet "September Sun City" und lässt uns wundern, ob in diesem Monat im Vergnügungspark Sun City in Südafrika ein besonders umstrittenes Konzert eines Popstars stattfand, der mehr am Geld interessiert war als am Kampf gegen die Apartheid. Der Titel "August San Salvador" könnte die Vorstellung hervorrufen, dass sich zu diesem Zeitpunkt ein besonders erinnerungswürdiges Ereignis abspielte, welches später seinen Weg in die Analysen der Befreiungstheologie fand. Könnte "November Belgrad" ein Hinweis auf einen Zwischenfall im Balkankonflikt in den 1990er Jahren beinhalten? Alle diese Verknüpfungen sind in den Titeln angelegt und ermöglichen Interpretationen, in die einzutauchen uns Tyson auffordert. Diese assoziative Interpretation erklärt trotzdem nichts über die Titel. Was diese nämlich miteinander verknüpft, ist der Befund, dass es sich bei allen Namen um Orte mit Spielkasino handelt.


Tyson erläutert, dass die von ihm gewählte Anzahl der Streifen an sich keine Bedeutung hat. Doch dann fiel ihm ein, dass in der Lotterie in Grossbritannien 49 Kugeln benutzt werden. Deshalb wird diese Zahl im öffentlichen Bewusstsein Grossbritanniens mit dem Zufallsprinzip verknüpft. Es handelt sich auch um ein perfektes Quadrat, was der Zahl eine andere besondere Qualität verleiht. Auch kann jeder einzelne Betrachter einen unterschiedlichen individuellen Bezug zu ihr herstellen; es kann sich um sein Alter handeln, oder seine Hausnummer, oder das Datum seines Geburtstags - 4/9, 4. September. Übrigens ist dies zufällig der Geburtstag meiner Mutter. Wenn sie Amerikanerin wäre, wäre dem nicht so, weil es sich dann um den 9. April handeln würde.


Alter, Adresse, Geburtstag - dies sind individuelle Möglichkeiten und werden aus diesem Grund als trivial empfunden. Trotzdem erhalten diese individuellen Möglichkeiten eine andere Bedeutung, wenn sich herausstellte, dass sie mit Fakten unserer Existenz übereinstimmten. Die Vorstellung, dass ein tieferes Muster den Dingen unterliegt, wäre dann vielleicht sogar verzeihlich. Und in dieser Sichtweise liegt der Schatten von Obsession und Verfolgungswahn.


Historienbild ist in gewissem Sinn ein merkwürdiger Begriff. In der Regel wird er benutzt, um Kunst zu bezeichnen, welche nicht nur die sozialen und politischen Kräfte eines bestimmten historischen Zeitpunkts untersucht, sondern auch die Interessen berücksichtigt, die zur Interpretation und Repräsentation des Ereignisses führen.


Ein klassisches Beispiel der Gattung sind Manets Bildervarianten der Erschiessung Kaiser Maximilians, die wiederum auf Goyas Darstellungen der Napoleonischen Feldzüge in Spanien beruhen. Im Vergleich zu Goyas Bildern enthalten die Historienbilder von Manet "Verbesserungen", da ihm mehr auf Fakten basierendes Material über das Ereignis zur Verfügung stand. Scheinen uns deshalb, wenn wir die verschiedenen Versionen von Manet betrachten, seine Bilder einer Wahrheit über das Geschehen näher zu kommen? Ist der historische Moment besser herausgearbeitet, je deutlicher Manet seinen Ekel ausdrückt gegenüber dem, was er als Frankreichs Schuld am Lauf der Ereignisse betrachtete? Sind wir aus unserer Perspektive in der Lage zu beurteilen, ob die Übereinstimmung zwischen unserem Wissen über die Erschiessung Kaiser Maximilians und Manets Darstellung, unsere Gewissheit darüber schärft, wie sich die Dinge abgespielt haben?


Indem wir akzeptieren, dass die Antwort auf diese Frage möglicherweise nein lautet, akzeptieren wir auch die zweischneidige Natur des Begriffs Historienbild selbst: er beinhaltet beides - den Versuch ein bestimmtes Ereignis wiederzugeben und eine Berücksichtigung der überlieferten Aufzeichnungen. Durch das Historienbild wird paradoxerweise ein Argument von Aristoteles in der Poetik bestätigt. Artistoteles schreibt nämlich, dass die Kunst mehr über die Menschheit aussagt, als dies die Geschichte jemals vermag - das historische Ereignis ist in der Vergangenheit verankert und muss deshalb notwendigerweise umschrieben werden; die Kunst hingegen ist universal und endlos offen zur Zukunft. Indem Jacques-Louis David den ermordeten Marat nicht lediglich als die physisch erschöpfte Figur darstellt, die durch seine schmerzhafte, chronische Hautkrankheit gezwungen ist, Bäder zu nehmen, sondern ihn als einen Bruder von Michelangelos sterbenden Gefangenen verewigt, leistet er einen Beitrag zum Geschichtsbild der französischen Revolution und zeichnet gleichzeitig aber auch eine historische Begebenheit auf.


Die drei grösseren "History Paintings" von Keith Tyson weisen die gleiche Anzahl von Streifen auf, unterscheiden sich aber von den kleineren Arbeiten dadurch, dass deren Reihenfolge nicht festgelegt ist. Jedesmal wenn sie gezeigt werden, muss das Rouletterad erneut gedreht werden, um eine neue Anordnung der Streifen zu bestimmen. Es besteht nun natürlich die mathematische Möglichkeit, dass ein monochromes Bild resultiert. Genauso wie die Musik von John Cage, die aus Noten besteht, die je nach Würfelwurf gespielt werden oder nicht, die Möglichkeit eines vollkommen stummen Stücks beinhaltet.


Tyson erwähnt, dass der Weltrekord des sukzessiven Auftretens der Farbe schwarz bei 70 liegt und dass dieser Rekord ein Kasino in Sheffield für sich beansprucht. Die Wahrscheinlichkeit ist aber höher, dass ein Bild entsteht, indem unterschiedlich breite, rote und schwarze Farbbänder durch Newmanesquen Zip unterbrochen werden.


Die drei Bilder mit variabler Farbfolge tragen Titel mit einer Orts- und Jahresangabe. Erneut steht an jedem der erwähnten Orte ein Kasino, obschon einem dies in Zusammenhang mit diesen Städten nicht als erstes in den Sinn käme. Insbesondere weil die Verbindung von Ort und Datum in den Titeln auf äusserst bedeutsame historische Momente verweist.


Paris 1796: seit zwei Jahren herrscht Terror in Frankreich, Robespierre, Saint-Just, Couthon und die anderen sind tot. Napoleon ist oberster Befehlshaber der französischen Armee. Geht es um diese Fakten? St. Petersburg 1905: der Winterpalast wird am "Blutigen Sonntag" im Januar gestürmt. Dieser Höhepunkt der ersten, letztlich nicht erfolgreichen Revolution führt zur Einsetzung der Karensky-Regierung. Oder sollten wir an Dostojewskijs "Spieler" denken? Welche Interpretation wir auch wählen; es bleibt der Schatten von vollkommener Bedeutungslosigkeit. Schliesslich ist das Gemälde das Resultat von Zufällen; nicht nur in seiner Anordnung von schwarzen, roten und grünen Streifen, sondern auch durch die Betrachter, die ihnen begegnen, und durch die Umstände, unter denen sie dies tun.


Wie immer bei Tyson ist das Zentrale seiner Arbeit der Grad unserer Fähigkeit, eine Beziehung zwischen einem besonderen historischen Ereignis - im Sinne einer Verkettung von Kräften, Ideen und Interessen - zu rationalisieren und diese gleichzeitig mit dem nicht geplanten Zusammentreffen von unzähligen physischen und biologischen Vektoren zu verknüpfen. Der Körper und auch der Geist, der sich selbst für diesen Körper hält, ist in erster Linie Gegenstand der Untersuchung - oder steht hier vielleicht sogar auf dem Spiel.


Die Betrachtung der "History Paintings" von Tyson konfrontiert uns mit der Willkürlichkeit der menschlichen Existenz. In ihrer Präsenz wird man sich des Sirenengesangs am Abgrund gewahr; das Entstandene ist da aus purem Zufall; es gibt keinen höheren Sinn. Die Anstrengung besteht deshalb darin, sich gegenüber den Verlockungen des Vergessens zu wehren, indem man sich den Sinn für ein bewusstes Engagement mit all dem bewahrt, was uns Zufall und Schicksal bescheren. Couthons gequälte Schreie, als man am 10. Thermidor seinen gelähmten Körper aus dem Rollstuhl hob und versuchte seine Glieder zu strecken, um ihn richtig unter das Beil der Guillotine legen zu können, verhallen nicht im Nichts. Wir vernehmen sie, weil sie von einer harten und nicht-absorbierenden Oberfläche zurückprallen. Und dies hat etwas Tröstliches.


Michael Archer


Ausstellungsdauer: 5.11. - 18.12.2004
Oeffnungszeiten: Di-Fr 14 - 18.30 Uhr, Sa 11 - 16 Uhr


Galerie Judin Belot
Lessingstrasse 5
8002 Zürich
Telefon 043 422 88 88
Email info@judinbelot.ch

www.judinbelot.ch





Keith Tyson
The Terrible Weight of History



Galerie Judin is pleased to present an entirely new series of paintings by one of the most innovative and successful contemporary artists, Turner Prize winner Keith Tyson. Known for his extraordinarily diverse body of work in painting, drawing and sculpture, his highly original works result from his experiments with the form and content of art, and engagement with the theoretical structures that purport to explain the world.


There are fifteen of Keith Tyson's "History Paintings". Three are large, and there are twelve smaller ones. This dozen, all of which are the same size, are of fixed arrangements of identically sized vertical strips held within a frame. The strips are aluminium, powder coated with one of three colours - black, red or green. The frames, also aluminium, are the same green. The colours are those found on a roulette wheel, and when the paintings were composed the colour of each strip was arrived at by successive spins of the wheel. If the ball ended in a black number, the strip was black, and so on.


There are 49 pieces in each painting, giving to the works the look of advertising hoardings made from many, three-sided rotating panels, and this is especially so given that the colour of each vertical band has been determined by chance. There is no discernible pattern in any of the complete paintings, so the temptation is to think that somehow the strips have been turning and have got out of sync, leading to the reds and blacks and greens getting a little muddled up.


The twelve smaller paintings are a kind of calendar, each being associated via its title with a month of the year. Along with a month, the titles contain a place name. The names are from all over the world - Europe, Asia, Africa, North and South America - and in searching for some rationale that might bind them together, we see that they are not consistent, including as they do cities, resorts, districts, and geographical landmarks. This variation holds out the possibility that the references are specific, even if that specificity is not immediately apparent.


We read "September Sun City" and wonder whether, say, there was a particularly contentious concert given in that month by a sanction-busting pop star more interested in money than the struggle against apartheid. "August San Salvador" might prompt us to think that perhaps an especially memorable event subsequently discussed in analyses of liberation theology occurred there in some year or other. And does "November Belgrade" provide an index to an incident in the Balkan conflicts of the 1990s? All of this conjecture is fine, and is the kind of interpretative behaviour that Tyson would expect us to indulge in. It does not, however, explain anything about the titles, since what actually connects them is the fact that they are all places in which one can find a casino.


The number of constituent panels, Tyson says, was chosen to have as little significance in itself as possible. But then having decided upon it, he remembered that the UK lottery uses 49 balls, so it is a number embedded in the public consciousness as one associated with chance. It is also a perfect square, which gives it another kind of special quality. There again, for any individual viewer it might be someone's age, or the number of their house, or their birthday - 4/9, September 4th. Actually, it is; it's my mother's birthday. If she happened to be American, of course, it wouldn't be. Age, address, birthday - these are individual possibilities, and for that reason would usually be considered as trivial. Equally, though, if they did turn out to accord with the facts of our existence we might be forgiven for concluding that there really was a deeper pattern to things. And that way lies the darkness of obsession and paranoia.


History painting is, anyway, a somewhat strange term. It is usually taken to refer to an approach to art making that involves an examination not only of the social and political forces at work in any given historical conjuncture, but also of the interests that determine the way in which that event is represented and interpreted. One classic example of the genre is Manet's repeated paintings of the execution of the Emperor Maximilian, drawing on Goya's depictions of the Napoleonic campaigns in Spain, and incorporating 'improvements' as he gathered more factual material about the incident. Do we, as we consider these successive versions, see Manet drawing closer to some truth about the event? Is the historical moment increasingly fleshed-out, the more fully he is able to demonstrate his repugnance at what he considered to be France's culpability in its unfolding?


Looked at from our perspective as viewers, are we able to say that any perceived congruence between our own knowledge of the execution and Manet's representation of it really serves to strengthen our certainty about how things were? In accepting that the answer to that question is probably no, we accept also the twofold nature of the term history painting itself: it is both an attempt to render that which has happened, and an act by means of which the historical record is constituted. Aristotle's argument in the Poetics that art says more about humanity than history ever can - because the historical event is particular, in the past, and therefore necessarily circumscribed, whereas art is universal and is endlessly open to the future - is thus paradoxically confirmed by history painting. David commemorating the murdered Marat, not as the physically debilitated figure he was, forced to take to his bath by a troubling, chronic skin complaint, but as the brother to Michelangelo's dying captives, contributes to, as much as it records the French Revolution.


The three larger paintings have the same number of panels, but differ from the smaller works in that their sequence is not fixed. Each time they are shown the roulette wheel has to be used to determine a new arrangement of strips. There is a mathematical possibility, of course, that one could end up with a monochrome. Just as John Cage recognised that music written as a series of points at which one is instructed to play or not to play according to the throw of a dice introduces the idea of a completely silent work, Tyson's roulette ball could conceivably land on, say, a red every time. He mentions that the world record for successive occurrences of black in a casino is over 70, and is currently held by an establishment in Sheffield. It is more likely, though, that the painting will be a mixture of more or less broad alternating bands of black and red with an occasional Newmanesque green zip.


The three unfixed ones have titles that refer to a place and a year. Once again, each place has a casino, although that wouldn't be the first thing that would normally come to mind in association with these cities, especially as the conjunction of place and date in their titles suggests particular, momentous points in history.


Paris 1796: the Terror is two years in the past, Robespierre, Saint-Just, Couthon and the others are dead, and Napoleon assumes the role of Commander in Chief of the French army. Is that what this is about? St Petersburg 1905: the Winter Palace is stormed on Bloody Sunday in January, and this action in the first, ultimately unsuccessful revolution ushers in the Karensky government. Or should we think of Dostoevsky and his Gambler? But whichever road to interpretation we choose to go down in search of meaning and significance, we find ourselves accompanied by the shadow of utter meaninglessness. In the end, the painting is the outcome of chance factors, and this is so not just of its arrangement of black, red and green bands, but also of the bodies that encounter it and the circumstances under which they do so.


As is usual with Tyson, the point at issue in the work is the degree to which we are able to rationalise a relationship between any particular historical conjuncture understood as a concatenation of forces, ideas and interests pregnant with significance, and the same moment understood as the unplanned meeting of myriad physical and biological vectors. The body, and the mind that thinks itself as that body, is above all the meeting point at issue - or even, maybe, at stake - here.


Looking at Tyson's History Paintings is to face the distinct prospect of the arbitrariness of existence being all there is. In their presence one feels the siren call of the abyss: what there is, is there by pure accident; there is no meaning. The struggle, then, is to maintain, against the seductive appeal of oblivion, some sense of purposive engagement with all that chance and happenstance throws in our way. Couthon's agonised screams, as they lifted his crippled body from the wheelchair on 10 Thermidor and tried to straighten his limbs so that he would lie properly under the guillotine blade, do not disappear into the void. They reach us because there is some surface, sufficiently hard and non-absorbent, off which they can bounce down to us. And there is some comfort in that.


Michael Archer


November 5 - December 18, 2004