© Peter Piller

Ungeklärte Fälle, 2006
Pigmentprint auf Papier
Courtesy Frehrking Wieshöfer, Köln


Peter Piller
Ästhetik und Langeweile



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Seit 1997 sammelt Peter Piller Bilder aus deutschen Regionalzeitungen, löst sie aus ihrem unmittelbaren Kontext heraus, kategorisiert, systematisiert und archiviert diese nach subjektiven Kriterien in eigene Motivgruppen. Das "Archiv Peter Piller" umfasst heute um die 7000 Abbildungen, die in über 100 Sammelgebiete geordnet sind. Einen Teil seines Archivs veröffentlichte er in einer 10-bändigen Künstlerbuchreihe und macht dieses auszugsweise auf www.peterpiller.de zugänglich. Das Kunsthaus Glarus präsentiert die bisher umfassendste Ausstellung Peter Pillers, in der er neben Arbeiten aus dem Archiv auch Werke aus seinen Zeichnungskonvoluten zeigt.


Das "Archiv Peter Piller", mit dem der Künstler in den letzten Jahren von sich reden gemacht hat, besteht zur Hauptsache aus Bildern aus der lokalen Tagespresse. Es sind meist unspektakuläre Aufnahmen, deren Zweck einzig der ist, Artikel von regionalen Interesse zu illustrieren: Einweihungsfeiern, Jubiläen, kleine und grosse Verbrechen und menschliche Tragödien; Fotos wie sie täglich in Zeitungen wie der "Frankenpost", dem "Isenhagener Kreisblatt" oder der "Freien Presse Chemnitz" zu sehen sein könnten. Was all die Fotografien verbindet, die in Peter Pillers Archiv Aufnahme gefunden haben, ist die Schwierigkeit, sie zu entschlüsseln; denn oft ist es kaum ersichtlich, was das Bild - herausgelöst aus dem ursprünglichen Zusammenhang und ohne die dazugehörige Bildunterschrift - eigentlich zeigen möchte. Diese Bilder wirken so beiläufig und absichtslos, dass sie nichts mehr aussagen und somit für jede Bedeutung offen sind, - was genau die Art von Bilder verkörpert, denen Peter Piller in seiner eigenen fotografischen Arbeit auf der Spur war. Er stiess auf diese Fotografien, die so konventionell und trivial sind, dass sie beinahe schon wieder sensationell sind, als er während seines Studiums in einer Medienagentur jobbte, wo er Unmengen regionaler Zeitungen danach durchzusehen hatte, ob die Werbeanzeigen richtig platziert worden waren. Von da an begann er die Bilder zu sammeln, zu sortieren, zu inventarisieren und vor allem neu zu gruppieren und zu benennen. "Auto berühren", "in Löcher blicken", "schiessende Mädchen", "Tatorthäuser" oder "Tanz vor Logo" lauten einige Überschriften seiner Motivgruppen.


Unterdessen arbeitet Peter Piller auch mit Bildern aus ganz anderen Quellen, beispielsweise auch mit Fotografien aus dem Nachlass einer niederländischen Werkszeitung, mit Schadensfotografien aus dem Archiv einer Schweizer Versicherung, mit Bilder aus dem Internet, historischen Postkarten sowie eigenen Fotos. Immer sucht Peter Piller in seinem Quellenmaterial jedoch nach Stereotypen, sich wiederholenden Motiven und Ähnlichkeiten, die von den (Amateur-) Fotografen nicht beabsichtigt worden waren, um durch die Kombination und Neuanordnung des heimatlos gewordenen Materials, Werte- und Bedeutungsverschiebungen zu produzieren und auf diese Weise zu neuen Formen von Erzählstrukturen zu gelangen.


Das "Archiv Peter Piller" enthält zudem eine ganz besondere Kategorie: die "ungeklärten Fälle". Es sind dies Bilder, die sich auch nach jahrelanger Such- und Sortierarbeit einer Zuordnung zu einer Kategorie verweigert haben, - und schliesslich gerade aufgrund dieser Eigenschaft eine eigene Kategorie bildeten. "Rückblickend", sagt Peter Piller, "lösen genau diese 'Einzelbilder' mein ursprüngliches Interesse am zutreffendsten ein: nämlich die Suche nach absichtslos besonderen und ungewollt ästhetischen Bilder, voller Melancholie, Witz und verschrobener Schönheit. Damit sind die 'Einzelbilder' so etwas wie der Kern meiner Archiv-Arbeit." Im Seitenlichtsaal des Kunsthaus Glarus wurden für Peter Piller lange, schmale Korridore konstruiert, in denen der Betrachter nun die Gesamtheit der "ungeklärten Fälle" abschreiten kann.


Seit 2002 arbeitet Peter Piller auch mit Luftaufnahmen von Einfamilienhäusern aus dem Nachlass einer Firma, die anfangs der 1980er Jahre Deutschland flächendeckend überflogen hatte, um die Fotografien gerahmt an die jeweiligen Hausbesitzer zu verkaufen. Titelgebend für die Serie war eine Notiz eines Verkäufers auf der Rückseite einer dieser - offensichtlich nicht verkauften - Fotografien: "von Erde schöner". Anhand formaler oder motivischen Kriterien wie die Verläufe der Gartenwege, geschlossene Fensterläden ("Schlafende Häuser") oder zum Auslüften aus dem Fenster gehängte Bettwäsche ("Zungen") schafft Peter Piller Motivketten mit einer höchst eigenwilligen, amüsanten Ikonografie.


Weniger bekannt sind Peter Pillers Zeichnungen, bei denen sich sein präziser Umgang mit Sprache, seine Poesie, seine Tiefgründigkeit und sein Witz deutlich manifestieren - Eigenschaften, die in den Archiv-Arbeiten in der Zusammenstellung der Motivgruppen und der Titelgebung ebenfalls spürbar sind. In Glarus präsentiert Peter Piller ein grosses Konvolut seiner "Bürozeichnungen" (2000-2005), welche er während seiner Zeit als Angestellter in der Medienagentur Carat, auf deren Briefpapier mit Firmenlogo gezeichnet hat: Einblicke in den Büroalltag, mit den sich wiederholenden kleinen Ritualen, dem Ärger, der Ästhetik und der Langeweile, den trivialen Kollegengesprächen, den eigenen Tagträumereien und Fluchtgedanken und den imaginierten Gehaltserhöhungsforderungen an den Chef. Es sind skizzenhaft festgehaltene, augenblickshafte Protokolle, in denen Peter Piller nicht zuletzt seine eigene Rolle als Künstler reflektiert, der auf einen Brotjob angewiesen ist, um Geld zu verdienen. "Ich arbeite bis ich es mir leisten kann zu gehen," steht denn auch exemplarisch auf einer seiner Zeichnungen.


In Glarus wird Peter Piller zudem seine "Peripheriewanderung Hamburg" (1994-95) zeigen, eine Arbeit, die noch vor Beginn der Archiv-Arbeiten entstanden ist, jedoch schon klar das Interesse des Künstlers am Prozess des Dokumentierens und Archivierens, sowie seine Vorliebe für städtische Randzonen zeigt, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt. Auf 89 Blättern hielt Peter Piller seine Wanderungen entlang des städtischen Grenzgebietes in zeichnerischen Notaten fest, die zwischen kartografischen Darstellungen, assoziativen Raumvermessungen und abstrakten Aufzeichnungen angesiedelt sind.


Zur Ausstellung erscheint im November 2007 ein zusammenfassender Band zum Archiv Peter Piller (JRP/Ringier, Christoph Keller Editions, Zürich). Das Buch gibt auf 320 Seiten zum ersten Mal einen Gesamtüberblick über Peter Pillers bildtypisierende Archivarbeit im Zusammenhang mit Zeitungsfotografie.


Peter Piller (*1968) lebt in Hamburg, wo er an der Hochschule für Bildende Künste studierte. Seit 2006 ist er Professor für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Er war u.a. Träger des Ars-Viva-Förderpreises des Bundes Deutscher Industrie (2004) und zeigte seine Arbeit in Gruppenausstellungen wie "Wohin kein Auge reicht", Deichtorhallen Hamburg (1999), "Kurzdavordanach", (kuratiert von Wilhelm Schürmann), Die Photographische Sammlung, SK Stiftung-Kultur, Köln (2004), "Multiple Räume: Park", Staatliche Kunsthalle Baden Baden (2005) und "Made in Germany", Kestnergesellschaft Hannover (2007). Einzelausstellungen Peter Pillers waren im Museum für Gegenwartskunst Siegen (2005), im Witte de With Centre for Contemporary Art Rotterdam (2005/06) sowie im Salzburger Kunstverein (2007) zu sehen.


Für die grosszügige Unterstützung des Ausstellungsprogrammes danken wir: Nestlé Fondation pour l'Art, Bundesamt für Kultur


Ausstellungsdauer 9.9. - 18.11.2007

Oeffnungszeiten Di-Fr 14 - 18 Uhr, Sa/So 11 - 17 Uhr


Kunsthaus Glarus
Im Volksgarten
8750 Glarus
Telefon +41 (0)55 640 25 35
Fax +41 (0)55 640 25 19
Email office@kunsthausglarus.ch

www.kunsthausglarus.ch



Peter Piller
Aesthetics and Boredom



Since 1997, Peter Piller has collected pictures from German regional newspapers, freed them from their immediate context, and categorized, systematized, and archived them according to subjective criteria into separate groups of motifs. The Peter Piller Archive now encompasses approximately 7,000 images classified into more than 100 collection categories. Peter Piller published one part of his archive in a 10-volume art book series and makes excerpts available at www.peterpiller.de. The Kunsthaus Glarus is now presenting the most comprehensive exhibition of Peter Piller so far, in which he shows works from his archive alongside works from his omnibus volume of drawings.


The Peter Piller Archive, with which the artist has made a name for himself in recent years, primarily consists of pictures from the local daily press. They are usually unspectacular shots, the sole purpose of which is to illustrate articles of regional interest: inaugurations, anniversaries, minor and major crimes, and human tragedies - photographs as can be seen everyday in newspapers such as the "Frankenpost", the "Isenhagener Kreisblatt", or the "Freie Presse Chemnitz". What all the photographs accepted into Peter Piller's archive have in common is the difficulty in deciphering them; often, it is hardly apparent what the image - freed from its original context and without the relevant caption - actually wants to show. These images appear so incidental and purposeless that they no longer express anything and are therefore open to any interpretation - which embodies precisely the type of picture that Peter Piller was pursuing in his own photographic work. He encountered these photographs, which are so conventional and trivial that they are almost already sensational again, when he worked part-time at a media agency during his studies, where he had to look through a vast number of regional newspapers to determine whether the advertisements had been placed correctly. From then on, he began to collect, sort, inventory, and especially regroup and rename the pictures. "Touching a car", "looking into holes", "girls shooting", "crime scene houses", and "dance in front of a logo" are some of the titles of his groups of motifs.


In the meantime, Peter Piller also works with pictures from completely different sources, for instance also with photographs from the estate of a Dutch company paper, claims photographs from the archive of a Swiss insurance company, images off the Internet, historic postcards, and his own pictures. Peter Piller always, however, looks for stereotypes in his source material as well as recurring motifs and similarities that the (amateur) photographer did not intend, in order to produce shifts of value and meaning through the combination and reordering of the displaced materials, and in this way to attain new forms of narrative structure.


The Peter Piller Archive also includes a very special category: the "unsolved cases". These are the pictures which, even after years of searching and sorting, have refused to be assigned to a category - and ultimately formed a category of their own on the basis of this characteristic. "In retrospect," Peter Piller says, "precisely these 'individual pictures' redeem my original interest in the most accurate way: namely the search for unintentionally special and aesthetic pictures full of melancholy, wit, and eccentric beauty. These 'individual pictures' therefore constitute somewhat of the core of my archive work." In the side-lit hall of the Kunsthaus Glarus, long, narrow corridors have been constructed for Peter Piller, in which the observer may now walk along the entirety of the "unsolved cases".


Since 2002, Peter Piller has also worked with aerial shots of single-family homes from the estate of a company which had flown over all of Germany at the beginning of the 1980's for the purpose of selling the framed pictures to the owners of the photographed houses. A note by a seller on the reverse side of one of these - apparently unsold - photographs provided the title for this series: "prettier from Earth". Based on formal or motif-driven criteria such as the shape of garden paths, closed shutters ("Sleeping Houses"), or bed linen hung out the window to air ("Tongues"), Peter Piller creates chains of motifs with a highly idiosyncratic and amusing iconography.


Less known are Peter Piller's drawings, in which his precise treatment of language, his poetic approach, his profundity, and his wit manifest themselves clearly - characteristics that are also palpable in his archive works through the composition of motif groups and the titles he uses. In Glarus, Peter Piller presents a large omnibus volume of his "Office Drawings" (2000-2005), which he drew during his time as an employee of the Carat media agency on its stationery with company logo: insights into everyday office work, with the recurring minor rituals, the frustrations, the aesthetics and the boredom, the trivial conversations among coworkers, one's own daydreams and thoughts of escape, and the imagined demands for pay raises. These are sketched records of the smallest moments, in which Peter Piller not least of all reflects on his own role as an artist who needs a day job to earn money. "I will work until I can afford to leave" is an exemplary statement on one of his drawings.


In Glarus, Peter Piller will also exhibit his "Wanderings through the Periphery of Hamburg" (1994-95), a work that evolved even before his archive, but that already clearly shows the artist's interest in the process of documenting and archiving, as well as his predilection for peripheral urban zones where there is really nothing to see. On 89 pages, Peter Piller recorded his wanderings through the urban borderland in drawn notes that are situated between cartographic illustrations, associative measurements of space, and abstract recordings.


In November 2007, a summary volume on the Peter Piller Archive will appear in conjunction with the exhibition (JRP/Ringier, Christoph Keller Editions, Zurich). On 320 pages, the book will for the first time provide an overview of Peter Piller's standardized imagery in his archive in the context of newspaper photography.


Peter Piller (born 1968) lives in Hamburg, where he studied at the Academy of Visual Arts. He has been Professor of Photography at the Academy of Visual Arts in Leipzig since 2006. Among other awards, he received the Ars Viva Prize of the Federation of German Industries (2004) and presented his work in group exhibitions such as "Wohin kein Auge reicht", Deichtorhallen Hamburg (1999), "Kurzdavordanach", (curated by Wilhelm Schürmann), the Photographische Sammlung, SK Stiftung-Kultur, Cologne (2004), "Multiple Räume: Park", Staatliche Kunsthalle Baden Baden (2005), and "Made in Germany", Kestnergesellschaft Hannover (2007). Solo exhibitions by Peter Piller were presented in the Museum für Gegenwartskunst Siegen (2005), the Witte de With Centre for Contemporary Art Rotterdam (2005/06), and at the Salzburger Kunstverein (2007).


Exhibition 9 September - 18 November 2007

Opening hours Tues-Fri 2 - 6 pm, Sat/Sun 11 am - 5 pm