© Ricarda Roggan


Ricarda Roggan
Open House



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Raum und Interieur als Konstruktionen der Wirklichkeit


Mit der Ankündigung "Open House" öffnen im englischen Sprachraum Gastgeber die eigenen vier Wände zu einem zwanglosen Besuch. Jeder Gast ist eingeladen, uneingeschränkt alle Räumlichkeiten vom Schlafzimmer bis zur Abstellkammer zu besichtigen und sich darin aufzuhalten. "Open House" bedeutet keine offizielle Veranstaltung, sondern die Geste, mit der Öffnung der Räume einen Blick scheinbar hinter die Kulissen der Repräsentation zuzulassen und zugleich einen (allerdings gesteuerten) Eindruck von Authentizität abzugeben.

Ricarda Roggans Fotografien zeigen menschenleere Interieurs. In hellen Innenräumen befinden sich Arrangements von gebrauchten Möbeln. Die Möbelstücke sind in der Gestaltung einfach, funktional und unauffällig. Ihr einziges Spezifikum sind starke Gebrauchspuren, die von einer häufigen und dauerhaften Benutzung zeugen. Die Präzision der Zusammenstellungen und der originale Erhaltungszustand verleiten zur gedanklichen Kontextualisierung der Möbelensembles: man assoziiert Betriebsräume, eine temporäre Schlafstätte oder ein ärztliches Behandlungszimmer.

Doch der immer gleichförmige Innenraum, in dem sich die Möbel befinden, irritiert. Der Blick ist meist frontal auf den schmalen, längsrechteckigen Raum gerichtet. Mit seinen weissen, fensterlosen Wänden und dem abgenutzten rotbraunen Estrichboden erinnert er an ein ausgeräumtes Zimmer oder eine Zelle. Von oben, ausserhalb des Bildraumes strahlt diffusses Licht über die gesamte Situation. In seiner Funktion und Bestimmung ist der Innenraum undefinierbar und lässt berechtigte Zweifel an seiner Authentizität aufkommen.

Ricarda Roggan enthebt gefundene Möbelensembles aus verwaisten Häusern und offengelassenen Industrieruinen ihrem originären Kontext und transferiert sie in einen anonymen, von ihr selbst errichteten Modellraum.

Das minutiöse Wiederherstellen der ursprünglichen Anordnung der Möbel in dem konstruierten Innenraum vergegenwärtigt den ehemaligen Bedeutungszusammenhang und suggeriert zugleich die "Absichtslosigkeit" der originalen Konstellationen. Vor dem Hintergrund des neutralen Innenraumes wirken die Möbel wie freigestellt und aus ihrem angestammten räumlichen Zusammenhang "herausretuschiert". Das Mobiliar wird in der konstruierten Raumkulisse zum isolierten Relikt einer anderen Realität. Es belebt auf rätselhafte Weise den Umraum und verweist auf die subjektive Deutbarkeit von Orten und Objekten.

Ricarda Roggan entzerrt und entfaltet zugleich die räumliche und inhaltliche Dichte der ursprünglichen Anordnung in ihren Bildern. Die Geschichte der realen Schauplätze bleibt jedoch im Dunkeln, denn es geht nicht um Narration, sondern um die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Bildwirklichkeiten. Die Fotografie führt die räumliche Installation in eine konzentriert reflektierende Bildkonzeption über, die die Konkretisierung abstrakter Ideen darstellt. Der fotografischen Bild-Erfindung geht eine Motivschöpfung in Form einer Rauminstallation voran, die wiederum auf eine gefundene räumliche Wirklichkeit bezugnimmt. Mit der konsequenten Repetition der realen Konstellation der Gegenstände thematisiert Ricarda Roggan die Reproduktionsfähigkeit des Mediums Fotografie. Hier jedoch reproduziert nicht erst die Fotografie, sondern schon das fotografische Motiv und damit die fotografische Konzeption eine Wirklichkeit.

Das Medium Fotografie wurde seit seiner Entdeckung unter dem Paradigma der dokumentarischen Abbildfähigkeit begriffen. Mit der Möglichkeit der digitalen Produktion und Manipulation fotografischer Bilder ist es dem Betrachter geläufig geworden, Abgebildetes nicht mehr als authentisch, sondern als illusionär oder idealisiert zu vermuten. Jedoch gerade in der klassischen analogen Fotografie der letzten Jahre haben sich künstlerische Positionen formiert, die den medienreflexiven und rezeptionsästhetischen Diskurs um die Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit anführen. Die Fotografien der auf Bildvorlagen zurückgehenden Papiermodelle von Thomas Demand, Miriam Bäckströms dekonstruierende Aufnahmen von Filmkulissen und die Modellfotografien von fiktiven Architekturtypen Oliver Bobergs seien hier nur als einige Beispiele genannt, die anhand von architektonischer und innenraumbezogener Motivik auf die Konstruktion von Wahrnehmung und Wirklichkeit verweisen. In der fotografischen Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Prinzip des Modells werden Bildmetaphern der Wirklichkeit geschaffen, die begreifbar machen, dass konstruierte Realitäten nicht nur ein Phänomen der Kunst, sondern gerade auch der zeitgenössischen Welt und der Wahrnehmung selbst sind.


Ricarda Roggan arbeitet im Spannungsverhältnis von Abbild und Erfindung, von Inventarisierung und Inszenierung. Unter dem Titel "Open House" öffnet sie spielerisch den Blick des Betrachters für Bildräume zwischen Konstruktion und Wirklichkeit. In der Verdichtung von authentischem Mobiliar mit einem konstruierten Raum zu einer konzeptionellen Bildeinheit hinterfragen Ricarda Roggans Fotografien herkömmliche Begriffe der Wirklichkeitsrezeption. Die vermeintliche Objektivierung der Arrangements durch die Fotografie bestätigt eine neue bildhafte Wirklichkeit, die ihr Selbstverständnis zwischen Dokumentation und Regie findet.


(Text: Simone Förster)


Ausstellungsdauer: 8.2. - 22.3.2003
Oeffnungszeiten: Di-Sa 11 - 18 Uhr


Galerie Jacky Strenz
Gipsstrasse 5
D-10119 Berlin
Telefon +49 30 97 00 55 60
Fax +49 30 97 00 55 61
E-Mail: galerie@jackystrenz.de

www.jackystrenz.de



Ricarda Roggan
Open House



A host ushers guests into a home for a causal visit with the announcement "Open House". Everyone is invited to look around freely. People wander from room to room, trespassing through bedrooms and closets without hesitation or restriction. "Open House" is not an official event. It is a gesture that seems to provide a view behind the curtains of representation. An impression of staged authenticity.

Ricarda Roggan's photographs show interiors without any people. Bright rooms contain arrangements of used furniture. The pieces of furniture are simple in their design; functional and rather inconspicuous. Their only specific marks are traces of heavy use telling a story about permanent application and handling. The compositions are deliberately constructed with used furniture. An ensemble may bring to mind a room within a factory, a temporary place to sleep or a doctor‘s surgery.

The ensemble varies but it is always photographed in the same uniform room. The view is mostly frontal towards the small, long stretched rectangular room. The white, windowless walls and scrappy red-brown flooring brings to mind a vacated room or cell. Diffused light from a source outside the picture frame shines over the entire arrangement. The room cannot be defined. Its function or dedication is not clear. The viewer becomes irritated and rightly questions its authenticity.

Ricarda Roggan extracts ensembles of furniture from their original context of deserted houses and closed industrial ruins. She then transfers them into an anonymous model room of her own creation.

The detailed reconstruction of the furniture‘s original arrangement in the constructed model room brings a representation of its past. At the same time it points at the "intentionlessness" of the primary constellation. In contrast to the neutral room, the furniture appears removed and cut out of its previous context. The furniture is transformed within the constructed scene to appear as an isolated relic of another reality. The furniture revives the room in a mysterious way and hints at the subjective interpretation of places and objects.

In her photographs Ricarda Roggan outstretches and unfolds the spatial and contextual density of the original arrangement. The authentic history of the furniture remains in the dark. Focus is not on narration; it is on the process of constructing picture realities. The photograph creates a concentrated reflective picture that represents the realisation of abstract ideas. It is preceded by the deliberate creation of a room installation related to a found spatial reality. With the consequent repetition of the furniture‘s constellation, Ricarda Roggan puts the theme of photography‘s reproductivity into focus. First the photographic motive and then the photograph itself each reproduce a reality.

Since its discovery the media of photography has been understood within the paradigm of documentary illustration. With the advent of digital production and manipulation the viewer now suspects illusion or idealisation instead of believing in authenticity. In particular, the artistic approach taken by recent classic analogue photography is spearheading the media-reflexive and aesthetic discourse about perception and representation of reality. Thomas Demand‘s photographs of paper models reconstructing motives of pictures, Miriam Baeckstroem‘s deconstructive shots of film scenes and Oliver Boberg‘s photographs of fictional architecture models can be seen as examples. With their architectural and interior related themes these artists hint at the construction of perception and reality. These artists create metaphors of reality in their work with model spaces. In this process one understands that constructed realities are not only a phenomenon within art, but also an intrinsic part of the contemporary world‘s perception of itself.

Ricarda Roggan works within the field of picture and invention, inventory and staging. Under the title "Open House" she invites the spectator to play with the space between construction and reality. By combining authentic furniture with a constructed room to create another conceptual unit, Ricarda Roggan questions the way we perceive reality. The photographs’ apparent objectification of the room arrangements confirm a new picture reality which finds itself somewhere between documentary and staging.

(Text: Simone Förster)