© VG Bild-Kunst, Bonn 2006

Christian Boltanski: Menschlich, 1994
ca. 1000 Schwarzweissfotografien, je 50 x 60 cm
bzw. 60 x 50 cm, Gesamtmass variabel
Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg
© VG Bild-Kunst, Bonn 2006


Spurensuche: Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst

Christian Boltanski
, Sophie Calle, Douglas Gordon, Paul Graham, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer, Annette Messager, Luc Tuymans


Seit seiner Eröffnung hat das Kunstmuseum Wolfsburg eine Vielzahl von Ausstellungen realisiert, die das Wachsen seiner Sammlung regelmässig vorstellten. Je umfangreicher die Sammlung wurde, desto leichter wurde es auch, aus den Beständen heraus die Präsentationen thematisch auszurichten. In diesem Jahr wird die thematische Herangehensweise um künstlerische Positionen erweitert, die sich noch nicht in der Sammlung befinden und die diese temporär ergänzen sollen.


Die Ausstellung des Kunstmuseum Wolfsburg widmet sich in der Ausstellung "Spurensuche: Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst" der Frage nach der Bedeutung von Erinnerung im Zeitalter digitaler Datenspeicher und beschleunigter Medienkommunikationsprozesse. Ausgehend von der im Jahr 1999 erworbenen Arbeit "Menschlich" von Christian Boltanski (geb. 1944) wurden Werke der Sammlung des Museums ausgewählt, die thematisch zu diesem Hauptwerk passen. Erinnerungsarbeit oder Spurensuche sind dabei nicht an formale Aussagemöglichkeiten gebunden. Die Ausstellung vereint Künstler aus Bereichen der Malerei, der Fotografie, der Videokunst und der Installation. Aus der Sammlung sind Christian Boltanski, Douglas Gordon, Paul Graham, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer und Luc Tuymans vertreten. In Ergänzung hierzu zeigen wir mit Sophie Calle und Annette Messager "Gastkünstler", die bislang nicht in der Sammlung vertreten sind, die vorhandenen Werke der Sammlung jedoch in der Präsentation dynamisieren und um neue Assoziationsmöglichkeiten bereichern.


In der Rauminstallation "Menschlich" hat Christian Boltanski sämtliche Personenfotografien, die er bereits für frühere Arbeiten verwendet hatte, zu einer imaginären Familie zusammengeführt: Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts, verschiedener Herkunft, Religion, sozialem Status, Nation, Täter und Opfer, etwa 1300 Einzelschicksale, die in dem riesigen Raum mehr oder weniger darauf zu warten scheinen, wahrgenommen zu werden. Die Installation lebt von dem Verlangen, jeden einzelnen dieser Menschen zu "erkennen", etwas über sie und ihre Schicksale erfahren zu wollen. Was man dort findet, sind Einblicke in die Präsenz und Absenz von Leben. Die Arbeit funktioniert wie ein Album, welches auf geschichtliche Ereignisse ebenso verweist, wie auf die individuellen Lebensläufe. "Menschlich" wird so zu einer Art Memorialraum.


Der belgische Maler Luc Tuymans arbeitet häufig in Serien. Komplexe Fragestellungen sind es, die ihn hierbei leiten. Eine davon kreist um das Thema des Holocaust. Diesem hat Tuymans in seiner hintergründigen Art die Serie "Der Architekt" gewidmet, die er erstmals 1998 in Berlin ausstellte. Der Titel eines der Gemälde aus der Sammlung "Muur Witte" (Weisse Mauer) ist nüchtern und knapp und bezieht sich auf eine weisse Wand, auf der ein Bild befestigt ist, das offenbar die Spur eines Skiläufers im Schnee zeigt. Hier initiiert Tuymans eine Reihe von Assoziationen, die der Betrachter des Bildes knüpfen kann: So hat z.B. der Topos von Spuren im Schnee insofern eine lange Tradition, als mit ihm die Flüchtigkeit eines vergangenen Ereignisses, auf das nur noch über die Negativform geschlossen werden kann, mit der sprichwörtlichen Vergänglichkeit des Schnees gekoppelt ist. Wenige Jahre nach der Serie "Der Architekt" ist das Bild "Hair" entstanden. Auch hier haben wir es offenbar mit einem Nachbild zu tun, einer vertrauten Erfahrung: Man versucht, sich an eine Person zu erinnern, der man vor längerer Zeit begegnet ist; aber das einzige, was die Erinnerung festhalten konnte, ist ein schemenhaftes Detail wie hier das Haar der Betreffenden. In "Recherches" (1997/98) bezieht sich Tuymans auf eine Erinnerung an eine Vitrine mit Objekten aus Menschenhaar, die er in Auschwitz gesehen hatte.


Von der französischen Künstlerin Annette Messager (geb. 1943) zeigen wir eine Leihgabe der Hamburger Kunsthalle mit dem Titel "Les Restes" aus dem Jahr 1998. Wie häufig in ihren installativen Arbeiten verwendet Messager Plüschtiere, die Trophäen gleich in einer bestimmten Konstellation an der Wand angebracht sind. Die Tiere stehen hierbei für Traum-, Wunsch- und Erinnerungswelten, für archäologische Überreste aus der Kindheit und sind vielschichtige Metaphern für emotionale Abgründe. Der Titel verweist bereits auf die zeichenhafte Fragmentierung von Erinnerung.


Auch Sophie Calle (geb. 1953) gehört zu den bekanntesten französischen Künstlerinnen der Gegenwart. Sie bedient sich oftmals eines detektivischen Ansatzes in ihren Arbeiten. Sie beschattet, sie recherchiert, sie fotografiert und kommentiert. Sie lässt andere zu Wort kommen, die normalerweise nicht befragt werden. So auch für die Arbeit "Die Entfernung" aus dem Jahr 1996, deren Entstehung sie folgerndermassen beschreibt: "Ich suchte Orte auf, von denen Symbole der DDR-Geschichte entfernt worden sind. Ich bat Passanten und Anwohner, die Gegenstände zu beschreiben, die einst diese leeren Stellen füllten. Ich fotografierte die Abwesenheit und ersetzte die fehlenden Monumente durch die Erinnerungen an sie." Die Werkgruppe Calles befasst sich mit der jüngsten deutschen Geschichte und mit der historischen Bereinigung des Stadtbildes in Berlin, wie sie sich in den Jahren nach der Wiedervereinigung ereignet hat.


Vom britischen Künstler Paul Graham zeigen wir vier Aufnahmen aus der Serie "Empty Heaven", die sich mit der japanischen Kapitulation nach dem Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki befassen. Geschichte und das Verdrängen schmerzhafter Erinnerungen werden in bildlichen Metaphern bearbeitet und in Form chiffrierter Botschaften dem Betrachter vermittelt.


Von Douglas Gordon präsentieren wir die Arbeit "Feature Film" aus dem Jahr 1999, die sich seit 2000 in der Sammlung des Kunstmuseum Wolfsburg befindet. Für diese Videoarbeit bat Douglas Gordon James Conlon, den Chef d'orchestre der Pariser Oper, die Musik des Filmklassikers "Vertigo" von Alfred Hitchcock zu dirigieren. Auf Szenen des Films verzichtet Gordon vollständig und konzentriert sich dagegen auf Nahaufnahmen der dramatischen Gesten des Kopfes und der Händes des Dirigenten. Die suggestive Kraft der Musik evoziert bei dem Betrachter, die zur Stimmung der Musik passen oder die ihn gar an konkrete Filmszenen erinnern.


Jörg Immendorffs Gemälde "Kleine Reise (Hasensülze)" ist ein Jahr nach dem Fall der Mauer 1990 entstanden und kann als Versuch einer Bestandsaufnahme des damaligen Kunstgeschehens gesehen werden, in der an Utopien vergangener Jahre erinnert wird. Der Maler greift auf die Ikonographie früherer Bilder zurück und thematisiert die historischen Umwälzungen, die deutsche Vergangenheit sowie die wesentlichen Entwicklungen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.


Dem Immendorffschen Gemälde gegenüber steht Anselm Kiefers raumgreifende Installation "20 Jahre Einsamkeit" aus den Jahren 1971 bis 1991. Bei den aufgeschichteten Bildern, aufgespannten Leinwänden, Bleibildern sowie den zusammengerollten Leinwänden handelt es sich vor allem um Bilder, die seinen eigenen Ansprüchen nicht genügten oder die unvollendet blieben: Akkumulierungen von Erinnerungen, bildgewordenen Ideen, Gedanken. Nähert man sich der Arbeit, so kann man auf den Randbereichen der meist in erdigen und dunklen Farben gehaltenen Bilder, zwischen Stroh und anderen Materialien Schriftzüge in der Kiefer eigenen Handschrift entdecken. Die Schichten, die neben den Leinwänden aus dicken Klumpen roter, verbrannter Erde, Lachen aus geschmolzenem Blei, Glasscherben, Bündel vertrockneter Sonnenblumen, einer Schlangenhaut und einem mit Asche bedeckten Kinderkleid bestehen, können als Erinnerungsschichten verstanden werden, die sowohl auf die deutsche Mythologie und Geschichte als auch auf die persönliche Vergangenheit des Künstlers verweisen.


Ausstellungsdauer: 28.2. - 13.8.2006
Oeffnungszeiten: Di 11 - 20 Uhr, Mi-So 11 - 18 Uhr
Montag geschlossen


Kunstmuseum
Hollerplatz 1
D-38440 Wolfsburg
Telefon +49 (05361) 26690
Fax +49 (05361) 266966
Email info@kunstmuseum-wolfsburg.de

www.kunstmuseum-wolfsburg.de


zum Seitenanfang