Saâdane Afif, Alexej Meschtschanow
Tiefbau-Arbeiten


"Im Traum sah ich ein ödes Gelände. Das war der Marktplatz von Weimar. Dort wurden Ausgrabungen veranstaltet. Auch ich scharrte ein bisschen im Sande. Da kam die Spitze eines Kirchturms hervor. Hocherfreut dachte ich mir: ein mexikanisches Heiligtum aus der Zeit des Präanimismus, dem Anaquivitzli. Ich erwachte mit Lachen. (Ana = ’avá; vi = vie; witz = mexikanische Kirche)"
Walter Benjamin, Einbahnstrasse, Suhrkamp, 11. Auflage 1991, Seite 38 - 39


Die Ausstellung "Tiefbau-Arbeiten" ist als letzter Teil der Ausstellungsreihe "Einsiedler-Vorübergehend" konzipiert.


Diese Ausstellungsfolge ist nicht als thematische Gruppenschau, sondern als eine Abfolge von Einzelpräsentationen zu verstehen, die den einzelnen Künstlerinnen und Künstlern Gelegenheit bietet, ihre Positionen und Konzepte in konzentrierter Form vorzustellen. Nach der erfolgreich durchgeführten ersten Ausgabe der Reihe "Einsiedler-Vorübergehend" 2001 mit Arbeiten von Martin Dammann (Berlin), Heribert Friedl (Wien), Daniel Knorr (Berlin), Annekathrin Schreiber (Berlin), Susa Templin (New York) und Didier Trenet (Trambly) folgte die zweite Ausstellung 2002 unter dem Titel "Magische Expeditionen - Streifzüge mit rätselhaften Empfindungen" mit Projekten von Isidro Blasco (New York), Maruch Sántiz Gómez (Chiapas), Uwe Max Jensen (Skaering), Markus Keibel (Berlin), Rosana Palazyan (Rio de Janeiro), Ekrem Yalciclndagg (Frankfurt a. M.).


Den jetzigen Abschluss der Reihe bilden speziell für die Räume der Neue Galerie realisierte Installationen von Saâdane Afif (Paris-Berlin) und Alexej Meschtschanow (Leipzig). Der assoziative Titel "Tiefbau-Arbeiten" reflektiert auf Walter Benjamins Buch "Einbahnstrasse". Der Vergangenheitsbewältigung, die Benjamin in diesem Buch unter den Bedingungen der Moderne erörtert, stellt er ein Modell der Kontemplation gegenüber, unter dem Menschen und einfache Dinge einander zufälligerweise begegnen können. Die Bücher von Benjamin, insbesondere "Einbahnstrasse", sowie die Gedichte von Paul Celan haben einen starken Einfluss auf meine Wahrnehmung und kuratorische Arbeit ausgeübt. Deshalb habe ich beide Autoren häufig zitiert und ihre Texte als Interpretationshilfe für diverse Ausstellungen, Kommentare und Interviews eingesetzt. Solche Zitate gleichen fast surrealistischen Collagen. Die heterogenen Sätze und Motive bieten im Detail einen vertrauten Anblick, lassen sich als Zitate aus dem Alltag auffassen, ihre immanenten Sinnzusammenhänge hingegen geben Rätsel auf oder sind gänzlich hermetisch. Als Ausstellungstitel sind die Zitate wie Fallen ins Bodenlose freier Assoziationsmöglichkeiten.


In den letzten Jahren fanden an vielen Orten thematische Gruppenausstellungen besondere Beachtung. Sie zeigten interessante Aspekte, aber ihre Fragestellungen bleiben oft abstrakt und theoretisch. Ideologisch abgeleitete Vorstellungen mancher Kuratoren verhinderten dabei nicht selten, dass die persönlichen Positionen der jungen Künstlerinnen und Künstler nicht mehr nachvollziehbar waren. Speziell für bestimmte Ausstellungsideen entwickelte und bisweilen im Auftrag entstandene Arbeiten verhinderten die Konzentration auf die persönlichen "Werkentwicklungen"


Die Idee, eine Reihe von Einzelpräsentationen mit Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern zu organisieren, zielt auf neue Ansätze im Diskurs der aktuellen Kunst. Das besondere Interesse dieser Veranstaltungen galt und gilt dem Vergleich mit ähnlichen Phänomenen in unterschiedlichen Kulturen mit dem Ziel einer Expedition unserer Vorstellung ins Innere.


Seit 2000 ist in der internationalen Kunstpraxis eine Entwicklung zu subversiven Formen künstlerischer Tätigkeit zu beobachten. Vor dem Hintergrund verschiedener nationaler Traditionen bedienen sich junge Künstlerinnen und Künstler der Systeme, die das tägliche Leben strukturieren; sie versuchen, mit unterschiedlichen Medien in dieses einzugreifen und eine Verschiebung traditioneller Bedeutungen zu erwirken. Alltägliche Phänomene erhalten dadurch eine neue Signifikanz. Die Ausstellungsreihe bezieht sich auf diese Okkupation althergebrachter Bedeutungen und zeigt Sinnverwandlungen von poetischer Leichtigkeit und hintergründiger Ironie. Sie widmet sich Künstlerinnen und Künstlern, die aus ihrer Erfahrung im Umgang mit den neuen Medien diese nur von Fall zu Fall in ihre Arbeit einbeziehen, ohne sich wie "Medien-Künstler" darauf zu fixieren. Ihre Arbeitsweisen sind vielfältig und lassen sich nicht unter einem Begriff zusammenfassen.


Der Kunstmarkt zwingt heute junge Künstlerinnen und Künstler zu einer ständigen Medienpräsenz. Sie steht oft im Widerspruch zu einer Konzentration, die für die Werkentwicklung notwendig ist und nur in einer gewissen einsiedlerischen Zurückgezogenheit gewonnen werden kann. Die Arbeiten dieser Ausstellung sind in einer mindestens vorübergehenden Klausur entstanden. Ihre Deutung und Bestimmung ist nicht leicht. Aber sie öffnen sich durch aktive Beteiligung dem Betrachter auf mehreren Ebenen der Wahrnehmung und zeigen ihre Poesie von der Einfachheit des Alltäglichen bis zu Gefühlen mystischer Innerlichkeit. Sie lassen sich dabei nicht von der besonderen Lebensgeschichte der einzelnen Künstlerinnen und Künstler und von allgemeinen zeitgenössischen politischen oder sozialen Fragestellungen trennen. Wie stets in der Kunst geht Realität in Fiktion und Fiktion in Realität über.


Mit diese Ausstellung beende ich meine Tätigkeit als Kurator für zeitgenössische Kunst im Museum Folkwang. Ich danke meinen Kollegen und den Förderern, die meine Arbeit uneingeschränkt unterstützt und mir Experimente wie die "Mobile Städtische Galerie" und "Neue Werkstrategien" ermöglicht haben.


Necmi Sönmez


Ausstellungsdauer: 10.12.2004 - 23.1.2005
Oeffnungszeiten: Di-So 10 - 18 Uhr, Fr 10 - 24 Uhr
Mo geschlossen


Städtische Galerie im Museum Folkwang
Goethestrasse 41
D-45128 Essen
Telefon +49 201 88 45 314

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