© Komar & Melamid

Komar & Melamid:
Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben /
Lenin Lived, Lenin Lives, Lenin Will Live, 1981-1982
Öl auf Leinwand / Oil on canvas, 183 x 148 cm
Jörn Donner Collection, Helsinki


Traumfabrik Kommunismus
Die visuelle Kultur der Stalinzeit



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Die umfassende Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus" widmet sich dem im Westen immer noch wenig bekannten Kosmos der sowjetischen Kunst der Stalinzeit. Als zentralistisch organisierte Massenkultur bediente diese sich der Mechanismen und Strategien der Werbung, um ihre hocheffektiven Propagandabilder zu verbreiten. Dabei weist der stalinistische Sozialistische Realismus eine offensichtliche Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen amerikanischen Massenkultur auf. Die Verwandtschaft zwischen der westlich-kommerziellen und der sowjetisch-ideologischen Massenkultur lässt sich vor allem daran erkennen, dass für beide Systeme die Werbung stilbildend war und sich an alle Menschen gleichermassen gerichtet hat. Mit dem Unterschied, dass im Westen für unterschiedliche Produkte, im stalinistischen Russland mit seinem totalitären und auf Unterdrückung basierenden Staatsapparat jedoch nur für ein einziges – den Kommunismus – geworben wurde. Einen die historischen Ereignisse reflektierenden visuellen Kommentar zur Kultur der Stalinzeit bilden die jüngeren Arbeiten der Soz-Art. Sie setzen sich kritisch mit der Ästhetik des stalinistischen Regimes auseinander und markieren eine Distanz, die uns heute sowohl ästhetisch als auch politisch davon trennt.


Die grosse Überblicksausstellung, die von Boris Groys, Professor für Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, mit Zelfira Tregulowa, der stellvertretenden Direktorin der Kreml-Museen in Moskau, kuratiert wird, zeigt u. a. Arbeiten von Kasimir Malewitsch, Gustav Kluzis, Alexander Deineka und Alexander Gerassimow, Filme von Dsiga Wertow, Michail Tschiaureli und Grigorij Alexandrow sowie Werke zeitgenössischer Soz-Art-Künstler wie Erik Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov und Boris Mikhailov. Die Ausstellung präsentiert somit ein transmediales Zusammenspiel von Malerei, Plakat, Skulptur, Architekturzeichnung und Film. Viele Werke, die aus Sammlungen wie der Tretjakow-Galerie, dem Archiv von ROSIZO, dem Historischen Museum Moskau, der Russischen Staatsbibliothek und dem Zentralmuseum der Streitkräfte kommen, werden seit dem Tod Stalins 1953 erstmals öffentlich zugänglich gemacht.


Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt: "Traumfabrik Kommunismus" steht als Teil einer Reihe von Projekten, die sich mit grossen gesellschaftlich relevanten Themen auseinander setzen, im Zentrum des Programms der Schirn Kunsthalle. Gerade nach dem Fall der Mauer, der Umgestaltung der globalisierten Gesellschaft sowie der Verschiebung der Machtblöcke und Hegemonien ist es mehr und mehr notwendig, einen erneuten Blick auf die Repräsentationsmuster eines totalitären Staatssystems zu werfen und die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Macht gerade im Hinblick auf die Gegenwart neu zu stellen."


Boris Groys, Kurator der Ausstellung: "Die Kunst des stalinistischen Sozialistischen Realismus war eine grosse Werbekampagne, die das Ziel hatte, für den Aufbau des Kommunismus zu trommeln. Die kommunistische Agitation, die der westlich-kommerziellen Werbung wesentlich näher ist als der Propaganda der Nazis, richtete sich an keine abgegrenzte Zielgruppe. Vielmehr rief sie die gesamte Menschheit dazu auf, das Produkt Kommunismus zu erwerben. Sie war ihrer Konzeption nach eine Kultur für die Massen, die es de facto so nicht gab, aber in der Zukunft geben sollte."


Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war vor allem die Zeit einer tief greifenden Umgestaltung des öffentlichen Raums, der Formierung einer alles beherrschenden globalisierten Massenkultur. Als Hauptträger dieser Massenkultur dienten die Medien der massenhaften Reproduktion und Verbreitung von Bildern, wie etwa Film oder Plakat. Aber auch die traditionellen Medien Malerei, Skulptur oder Architektur wurden in die Mechanismen der Massenverbreitung einbezogen und erhielten dadurch eine neuartige Funktion und gesellschaftliche Verwendung. Diese Transformation der gesamten traditionellen Kultur wurde besonders radikal und konsequent durch die totalitären Massenbewegungen zwischen den beiden Weltkriegen betrieben. Wenn Massenkultur heute vor allem als kommerziell und marktkonform empfunden und analysiert wird, soll nicht vergessen werden, dass sie im früheren Stadium ihrer Entwicklung in erster Linie als Propaganda für politische Zwecke zentralistisch organisiert und eingesetzt wurde.


Ein herausragendes Beispiel einer solchen zentralistisch organisierten Massenkultur bietet die sowjetische Kultur der Stalinzeit, die unter allen bekannten totalitär organisierten Massenkulturen zugleich auch die längste Lebensdauer hatte. Stalin war Förderer, Auftraggeber und Gegenstand zahlloser Kunstwerke. Sein Plan vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land", von der Politik der beschleunigten Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft, der Errichtung einer modernen Armee und der Kontrolle aller Gesellschaftsschichten, für den Millionen von Menschen mit dem Leben bezahlen mussten, wurde von einer gewaltigen Propagandamaschine begleitet. Mit dem Personenkult um Stalin selbst und der Mythologisierung Lenins wurde eine Bildproduktion forciert, welche die Pläne und Errungenschaften des Regimes feiern sollte.


Die visuelle Kultur der Stalinzeit war zugleich Fassade und Machtmittel. Die Ausstellung zeigt diese Kultur in ihrem Charakter als mannigfaltig verzahnte Bilderfabrik, die die Aufgabe hatte, das Gesicht eines ganzen Landes zu verändern. Ihrer realistischen Form nach schien diese Kunst gut verträglich, unproblematisch und für die Massen leicht verständlich zu sein, aber ihrem Inhalt und ihrer Zielsetzung nach war sie durch und durch ideologisch determiniert. Sie bildet das Leben nicht ab, sondern versinnbildlicht den kollektiven Traum von einer neuen Welt und einem neuen Menschen. Im Unterschied zur Nazikunst, die sich an der Vergangenheit orientierte, blieb die Kultur der Stalinzeit stets zukunftsbezogen und kann nicht als simpler Rückgriff auf die Tradition der naturalistischen Malerei des 19. Jahrhunderts gewertet werden. Vielmehr baut die Kultur der Stalinzeit in diesem Punkt auf der russischen Avantgarde auf, die ihrerseits immer schon das Ziel einer totalen ästhetisch-politischen Umgestaltung des Lebens verfolgt hatte. Die Kultur der Stalinzeit betrieb dieses Projekt, wenn auch unter Verwendung anderer künstlerischer und politischer Mittel, weiter: das sowjetische Reich als Staatskunstwerk, der Sozialistische Realismus als Einheit von Kultur und Macht, Stalin als der herrschende Künstler-Tyrann. Damit wird die Wende von der "Grossen Utopie" der frühen Avantgarde am Anfang des Jahrhunderts zu den Visionen einer neuen, die ganze Menschheit umfassenden utopischen Massenkultur der späten 20er und 30er Jahre deutlich.


Die Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus" geht von diesem Wendepunkt aus und schliesst somit chronologisch an die grundlegende Schirn-Ausstellung über die russische Avantgarde "Die grosse Utopie" an. Im ersten Abschnitt wird der Weg von der frühen avantgardistischen Abstraktion zur Figurativität und Fotografizität des Sozialistischen Realismus anhand des Spätwerkes von Kasimir Malewitsch oder den Fotokollagen von Gustav Kluzis dokumentiert. Die Bilder des "hohen" Sozialistischen Realismus der 1930er und 1940er Jahre mit ihren Hauptvertretern wie Alexander Gerassimow, Alexander Deineka und Isaak Brodski thematisieren verschiedene Aspekte des neuen sowjetischen Lebens wie etwa die sowjetischen Führer, die den neuen kommunistischen Menschen verkörperten, das Stadtleben, die kollektivierte Landwirtschaft, den Sport und das glückliche private Leben. Parallel dazu werden Filme aus der Stalinzeit von Dsiga Wertow, Michail Tschiaureli, Abram Room u. a. gezeigt, die ebenfalls grosse Verbreitung fanden und charakteristisch für ihre Zeit waren. Dadurch wird die Transmedialität der sowjetischen Kunst noch einmal unterstrichen. Die Ausstellung schliesst mit der Soz-Art und dem Moskauer Konzeptualismus, der inoffiziellen russischen Kultur der 1960er und 1970er Jahre mit Vertretern wie Erik Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov und Boris Mikhailov. Sie steht als Beispiel für die genuin ästhetische Kritik des stalinistischen Sozialistischen Realismus. In ihrer Reflexion der avantgardistisch-stalinistischen Utopie und deren Selbstzerstörung trifft sie sich in der grundsätzlichen Ablehnung utopischen Denkens mit der westlichen Postmoderne.


Ausstellungsdauer: 24.9.2003 - 4.1.2004
Öffnungszeiten: Di, Fr-So 10 - 19 Uhr, Mi/Do 10 - 22 Uhr


Schirn Kunsthalle Frankfurt
Römberberg
D-60311 Frankfurt am Main
Telefon +49 69 29 98 82-0
Fax +49 69 29 98 82-240
E-Mail welcome@schirn.de

www.schirn.de




Dream Factory Communism
The Visual Culture of the Stalin Era



The comprehensive exhibition "Dream Factory Communism" is dedicated to the universe of Soviet art in the Stalin Era, which is still only little known in the West. As part of a centralistically organized mass culture, this art relied on advertising mechanisms and strategies for spreading its highly effective propaganda images. There is an obvious similarity between Stalinist Socialist Realism and the US-American mass culture of that time. The affinity between the Western commercial and the Soviet ideological mass culture is mainly evinced by the fact that both systems' advertising schemes were style-formative and addressed all people in the same way – the difference being that a variety of products was promoted in the West, while only one, communism, was promoted in Stalinist Russia with its totalitarian state machinery based on oppression. The more recent works of Sots Art represent a visual comment on the culture of the Stalin Era reflecting the historical events; they critically examine the stalinist regime's aesthetics and mark a distance which separates us from its works both aesthetically and politically.


The major survey curated by Boris Groys, professor of philosophy and media theory at the Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, together with Zelfira Tregulova, deputy director of the Kremlin Museums, Moscow, includes works by such artists as Kazimir Malevich, Gustav Klutsis, Aleksander Deineka, and Aleksander Gerasimov, films by Dziga Vertov, Mikhail Chiaureli, and Grigorii Aleksandrov, as well as works by contemporary Sots Art representatives such as Erik Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov, and Boris Mikhailov. The selection guarantees an interplay between a range of different media from painting and poster art to sculpture, architectural drawing, and film. Many of the works, which come from collections like the Tretyakov Gallery, the ROSIZO State Museum and Exhibition Centre Archives, the Historical Museum of Moscow, the Russian State Library, and the Central Armed Forces Museum, will be accessible to the public for the first time since Stalin's death in 1953.


Max Hollein, Director of the Schirn Kunsthalle Frankfurt: "As part of a series of projects dedicated to crucial socially relevant issues, "Dream Factory Communism" is an exhibition which is at the center of the Schirn program. Especially after the fall of the Wall, the globalization of the world, and the shift of power blocs and hegemonies, it has become increasingly necessary to reassess the representation patterns of totalitarian states and to reconsider the relationship between art and power in regard to the present."


Boris Groys, curator of the exhibition: "The art of Stalinist Socialist Realism was a huge promotion campaign beating the drum for the building of communism. Communist agitation, which is far closer to Western commercial advertising than to Nazi propaganda, was not aimed at a limited target group but rather called on all mankind to purchase a product named communism. According to its conception, it was a culture for the masses which did not exist as such then but would become a reality in the future."


The time between World War I and World War II was primarily an epoch that saw fundamental transformations of public space and the formation of a globalized mass culture which would dominate everything. This mass culture was essentially based on media – such as films and posters – allowing the reproduction and distribution of images in large numbers. But the mechanisms of mass distribution also prevailed in the traditional spheres of painting, sculpture, and architecture, which thus acquired a new function and social use. The totalitarian mass movements between WW I and WW II proved to be specifically radical and uncompromising in regard to this all-embracing revolution of traditional culture. The fact that, today, mass culture is primarily considered and analyzed as something commercial and market-conforming should not make us forget that it was, above all, organized and used as propaganda for political purposes in the early stage of its development.


The Soviet culture of the Stalin Era not only represents an outstanding example of such a centralistic mass culture but also had the longest lifespan among all known totalitarian structures of its kind. Stalin was the patron, customer, and subject of numerous art works. The realization of his plan of "building Socialism in one country," of a policy of accelerated industrialization and a collectivization of agriculture by force, of the foundation of a modern army and the control of all social classes, for which millions of people had to pay with their lives, was accompanied by a gigantic propaganda machinery. The personality cult around Stalin and the mythologizing of Lenin fuelled a production of images which was to celebrate the regime’s projects and achievements. The visual culture of the Stalin era was both a façade and an instrument of power.


The exhibition reveals the character of this culture as a multifariously interlocked factory of pictures designed to change the face of an entire empire. Because of its realistic form, this art seemed to be agreeable, unproblematic, and easy to understand for the masses, yet it was a completely ideological venture both in terms of contents and objectives. It does not present itself as a portrayal of life but visualizes the collective dream of a new world and a new man. Unlike Nazi art, which was oriented towards the past, the culture of the Stalin era always remained forward-looking and can by no means be regarded as a simple recourse to the traditions of 19th-century naturalistic painting. The culture of the Stalin era rather built on the Russian avant-garde, which had always striven for an aesthetical and political full-scale transformation of life. Though relying on different artistic and political means, it kept pursuing this goal: the Soviet empire as a work of national art, Socialist Realism as a synthesis of culture and power, Stalin as the ruling artist-despot. This marks the turn from the early avant-garde’s "Great Utopia" born in the first years of the century to the twenties' and thirties' new Utopian mass culture that comprises all mankind.


Chronologically speaking, "Dream Factory Communism" starts from this turning point where the major 1992 Schirn exhibition "The Great Utopia" dedicated to the Russian avant-garde ended. Highlighting Kazimir Malevich's late work and Gustav Klutsis' photo collages, the first section of the show documents the road from early avant-garde abstraction to the figurative and photographic solutions of Socialist Realism. The pictures of the "high" Socialist Realism of the 1930s and 1940s and its main protagonists Aleksander Gerasimov, Aleksander Deineka, and Isaak Brodski deal with various aspects of the new Soviet life such as the Soviet leaders embodying "the new Communist man," life in the city, collectivized agriculture, sports, and happy private life. Films from the Stalin era by Dziga Vertov, Mikhail Chiaureli, Abram Room, a.o., which were also seen by many people and are extremely characteristic of their time, will round off the panorama, emphasizing the cross-media character of Soviet art once again. The presentation concludes with Sots Art and Moscow Conceptualism, the unofficial Russian art of the 1960s and 1970s, introducing Erik Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov, Boris Mikhailov, and other representatives. This part of the exhibition exemplifies a genuinely aesthetical criticism of Stalinist Socialist Realism: reflecting the avant-garde Stalinist Utopia and its self-destruction, this approach, in its fundamental rejection of Utopian thinking, relates to Western post-modernism.


24 September 2003 - 4 January 2004