© Yves Netzhammer


Yves Netzhammer

Die überraschende Verschiebung der Sollbruchstelle eines in optimalen Verhältnissen aufgewachsenen Astes


Über die Schweiz hinaus gilt Yves Netzhammer als eine der grössten Zukunftshoffnungen im Bereich der multimedialen Kunst. Eine digitale, von der Zeichnung abstammende Sprache nutzt er als attraktives, leichtflüchtiges und zeitgemässes Medium, das mit Inhalten aufgeladen wird, die in einem traditionellen Sinn ans Lebendige gehen. Mit Videoprojektionen und gezielt gesetzten installativen Eingriffen taucht Yves Netzhammer (*1970, lebt in Zürich) mit seiner bisher umfangreichsten Einzelausstellung in einem Museum das Helmhaus als Ganzes in ein ebenso irritierendes wie faszinierendes Licht. Zwölf Filme, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind, werden gezeigt.

Am Computer entwirft Netzhammer Bilder und Filmsequenzen, die unsere Lebenswelt modellhaft reflektieren. Mit Gegenständlichem denkt er in einer zeichenhaften Sprache über Abstraktes nach. Ein gesichtsloser Mensch zum Beispiel findet sich nackt in einer leeren Landschaft. Wir sehen ihn und wir sehen, was er sieht. Der Mensch macht Leibesübungen und verschafft sich so eine Beziehung zum Bewegungsapparat, zum Umfeld und zur Zeitebene. Diese einfache Szene erweist sich im Nebeneinander mit anderen Filmsequenzen als Knotenpunkt in einem Netz von Querbezügen: Der Dialog zwischen Innen- und Aussenwelt baut im Menschen Erinnerungs-Topographien auf. Landschaftliche Sedimente wiederum sind von Gefühlen bewegt und eröffnen dem Menschen neue Perspektiven. In diesen verschachtelten Verhältnissen bringen sich der Protagonist und die Umgebung gegenseitig hervor. Allerdings entziehen Menschenkörper und Raum-Zeit einander dadurch auch die Grundlagen stabiler Identität: Die Verhältnisse freundlicher Zuversicht stürzen zwischen Hierarchie und Entropie in Abgründe, die man einzig im Rahmen einer eigengesetzlichen Gegenwelt erträgt.

Die Konstruktionsgesetze und Versuchsanordnungen dieser Gegenwelt gestatten es, den Körper in seiner Beziehung zum Denken weiter zu fassen: "Ich denke, dass unsere Körperlichkeit unser Denken und Kreieren entscheidend prägt" (Netzhammer). Als Vor-Wand setzt Netzhammer das ein, worauf die Bildzeichen verweisen: Hinter der begrifflichen Deckung eines "Baumstrunks" oder einer "Sonne" zum Beispiel verkuppeln sich die Referenzen weiter. In Form von Trugbildern durchstreifen sie mikroskopisch kleine und unendlich ferne Prozesse - Figuren der Abspaltung und der Verschmelzung, der Imitation und der Tarnung, der Vertauschung und der Verwandlung - und entwerfen so ein Feld undurchdringlicher Gleichheitsbeziehungen. Organe, Behausungen, Lebens- und Sterbenserreger gehen in Kleinstereignissen ebenso überraschend wie zielsicher ineinander über. Sie erzeugen Eigenzeiten und verdichten sich zu Bausteinen fiktionaler Biografien.

Netzhammers Handlungsketten schlagen sich im Fundament gesellschaftspolitischer Strukturen nieder: Sie kreuzen sich mit den Konventionen unseres alltäglichen Zeichengebrauchs und wachsen im Datenraum der niederschwelligen Widerstände zu artifiziellen Trieben und Wunschgebilden aus. Die in Metamorphose begriffenen Bild-Konventionen sondern nesselnde Sekrete ab. Als Empfindungszeichen brennen sie auf unserer Haut und zielen auf die Sehnsüchte und Ängste, mit denen unsere Gesellschaft Körper voneinander abgrenzt, Gedanken vereinzelt und Selbstgefühl herstellt. Sie treffen uns dort, wo wir am empfindlichsten sind: bei Krankheit und Liebe, Sexualität und Tod. Weil Netzhammers Protagonisten auch die groteskesten Erfahrungen reglos über sich ergehen lassen, überträgt sich ihr Emotionspotential umso direkter. Die identifikatorischen Reize pflanzen sich eigenmächtig weiter fort und übertragen sich von Handlungsträgern auf Objekte und umgekehrt. Mitgefühl und Empathie geben dadurch ihre Konstruiertheit zu erkennen. Subjekt, Selbstbild und Objektwelt geraten in Mischverhältnisse von berührender und gleichzeitig verstörender Evidenz. Netzhammers modellhafte Bildsprache wahrt Distanz zur Welt und kommt ihr damit umso präziser, sinnlicher und schmerzlicher nah.


Zur Ausstellung erscheint ein vom Künstler und von Zuzana Ponicanova gestaltetes Buch mit eingelegter DVD, das vom Helmhaus Zürich in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst, Nürnberg, herausgegeben wird (192 S., 312 Abb.; Preis: 48 Fr.). Die Ausstellung reist anschliessend weiter in den Württembergischen Kunstverein Stuttgart und ins Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg.


Simon Maurer, Kurator
Mitarbeit: Tim Zulauf


Ausstellungsdauer: 24.1. - 16.3.2003
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr


Helmhaus Zürich
Limmatquai 31
8001 Zürich
Telefon 01 251 61 77
Fax 01 261 56 72

www.helmhaus.org


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