Alberts Guesthouse, Petra und Nicolas, 269-27, 2004 Petra Elena Köhle und Nicolas Vermot Petit-Outhenin Alberts Guesthouse Click for English text In den Zwischenräumen des Protokolls Mein Abfall heute: leere Filmdosen und Filmverpackungen. Für Photographen gehört die Reflexion über die Authentizität des geschossenen, reproduzierten Bildes, über Flüchtigkeit und Dauer, Ausschnitthaftigkeit und Imaginationskraft zum Beruf. Die beiden jungen Künstler Petra Elena Köhle und Nicolas Vermot Petit-Outhenin, (beide studierten Fotografie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich), fotografieren jedoch nicht nur mit einer Kamera, sondern auch mit Sprache und Dingen: Protokolle, Notizen, Zitate, Dokumente jeglicher Art - sprachliche Momentaufnahmen und Beweisstücke aus dem Alltag, die später "entwickelt", nachträglich "belichtet", "koloriert", "abgezogen", mitunter verdoppelt werden. Im Zentrum steht dabei nicht das äussere, sondern das innere Bild. Was bedeuten all diese Ablichtungen der Realität für uns, wie lassen sich emotionale Farben festhalten, wie funktioniert die Nomenklatur der Erinnerung und wie wird dieses innere Archiv aktiviert, sodass Geschichten entstehen? Die Dokumentarfotographie, die den privaten und öffentlichen Alltag auf so merkwürdig selektive Art fixiert, wird zur künstlerischen Strategie erhoben, die auch auf andere Medien übergreift und in insze-nierten Protokollen mündet. Als Mädchen mochte ich Bikinioberteile überhaupt nicht. Für die 2004-2006 entstandene und mehrfach gezeigte Arbeit "Pour les Oiseaux" (edition fink, Zürich 2005) beispielsweise wurden über 50 Menschen nach einem Wendepunkt in ihrem Leben befragt. Die Antworten, die einen Menschen tatsächlich auf einen "Punkt" reduzieren, in ihrer Kürze ebenso komisch wie ergreifend, hängen mit anderen "Dokumenten" in einer Wandinstallation als wäre ein Familienalbum geöffnet worden. Eher an eine wissenschaftliche Untersuchung erinnert die Präsentation des Palermoexperimentes "Anche se non posso focalizzarti - sei nel mio sguardo - auch wenn ich dich nicht sehen kann, du bist in meinem Blickfeld", das für die beiden Künstler zu einer Einladung an das Istituto Svizzero di Roma führte. Es untersucht die Möglichkeit einer zufälligen Begegnung zweier Menschen, die, strengen Spielregeln verpflichtet, sich nicht systematisch suchen dürfen. Ausgestattet mit Fotoapparat und GPS-Gerät wird die von ihnen zurückgelegte Wegstrecke innerhalb der auf dem Stadtplan festgelegten Stadtgrenzen Palermos genau dokumentiert und mit Tagesnotizen begleitet. Es entsteht ein Netz aus Spuren, das, obgleich alles penibel dokumentiert zu sein scheint, eine Ahnung davon hinterlässt, wie viel durch die Maschen gegangen ist. Albert sagt: Srey Touch sei verwirrt. Srey Touch sagt, sie habe mit Albert eine lange Beziehung geführt und er habe sich gestern trennen wollen. "Was würde dein Kollege an der anderen Tür über die Tür, die du bewachst, sagen?" Das ist die Lösung im bekannten logischen Spiel, das jeder mindestens zweimal durchgerechnet hat, weil er die Antwort vergessen hatte: Ein Gefängnis, zwei bewachte Türen, von denen eine in die Freiheit führt, ein lügender, ein wahr sagender Türwächter und man darf nur eine Frage stellen. Allerdings gibt es in der Realität meistens mehr als zwei Türen und niemand weiss, ob jemand lügt oder vielleicht auch nur ein wenig und nicht ganz, wer Wächter und wer Gefangener ist, wer der Spielleiter und was man unter Freiheit verstehen soll. Ein Guesthouse, zwei Angestellte, 6 Zimmer, ein abwesender Chef, wechselnde Gäste. Das sind die Rahmenbedingungen einer Versuchsanordnung im Mikrokosmos der kambodschanischen Stadt "Sihanoukville", in der die beiden Künstler im November 2004 für elf Tage das Management des kleinen Hotels "Alberts Guesthouse" übernehmen. Der Besitzer des Hotels, den sie einige Tage zuvor in der "Fullmoon Bar" kennen gelernt hatten, muss zur Beerdigung seines Vaters und bittet die beiden Schweizer in seiner Abwesenheit die Führung des Gästehauses zu übernehmen. So what are you writing about me in your project? Neben der Arbeit entsteht ein Protokoll, in dem die Ein- und Ausgänge des Hotels verzeichnet werden, Karteikarten für die Gäste aufgenommen werden, die neben Zimmernummer, Preis, Name und Nationalität auch ein kurzes Personenportrait enthalten. Tagesnotizen, Fotos, Dokumente, alles, was wichtig scheint, auch das, was die Gäste selbst antragen, wird ins Protokoll aufgenommen. It could have been more beautiful. Was zunächst fein durchnummeriert (was zum Kuckuck ist das für eine seltsame Nummerierung?) und scheinbar objektiv daherkommt, entfaltet eine merkwürdige Eigendynamik. Die Sprache ist einfach und unprätentiös, manchmal bruchstückhaft, wie im Telegramm, meist jedoch in Hauptsätzen gehalten. Es gibt wenig Konjunktionen, die logischen Brücken sind von einem zum anderen Satz auf ein Minimum reduziert. Eine Notiz folgt der anderen so wie ein Foto neben dem anderen hängt, aber wie bringt man sie zusammen? Ein grosser Teil des Protokolls ist in Englisch geschrieben, jenem Ferienenglisch, in dem Gäste wie Bedienstete gleichermassen radebrechen und jeden Augenblick Missverständnisse provozieren. Wie war das gemeint? Beide hatten schon einmal einen englischen Liebhaber. Hinter der Personenbeschreibung verbirgt sich meistens nur ein Satz, der ähnlich wie der Wendepunkt im Leben eines Menschen im Projekt "Pour les Oiseaux", die Menschen auf den Punkt bringt. Ein isolierter Satz entfaltet, derart freigesetzt, eine grosse Wirkung und sagt mitunter mehr über die Sollbruchstellen im Leben, über Kolonialismus, über das Verhältnis von Männern und Frauen, über Wünsche und Hoffnungen aus, als eine vollständige Erzählung. Look at this place. It's all artifical. In der präzisen Arbeit an der Sprache kommt in der künstlerischen Arbeit von Petra Elena Köhle und Nicolas Vermot Petit-Outhenin den Zwischenräumen eine besondere Aufmerksamkeit zu. Erst durch die Zwischenräume entsteht jener Raum, der einzelnen Sätzen und Informationen überhaupt einen Nachklang verschafft und das Banale wie das Ungeheuerliche, was vom Fluss der Worte verdeckt wird, wieder durchschimmern lässt. Erst durch die Inszenierung der Zwischenräume verweisen Spuren auf Spuren und erzählen viel, ohne je zu einer Geschichte zu werden. Vielmehr ist es eine Anleitung, sich selbst ein Wort zu machen. Für die Ausstellung in der Galerie MADONNA#FUST ist eine Installation entstanden, die auf den unterschiedlichen Etagen Teile des Laboratorium entwirft, in dem elf Tage lang ein Spiel ohne Spielregeln gespielt wurde. Teil der Installation ist die Publikation "Alberts Guesthouse" (Edition Fink, Zürich 2007), in der das Protokoll vollständig abgedruckt ist. Die Vernissage am 7.9.2007 in der Galerie Galerie MADONNA#FUST ist zugleich auch die Buchvernissage. "Wir sind am Ende ganz misstrauisch geworden, weil sich einfach keine sinnvolle Geschichte ergeben wollte: Was erzählen die uns hier eigentlich? Ist das die Wahrheit? Wir treffen einen Typen in der Bar und ein paar Tage später leiten wir sein Guesthouse. Dann stellt sich irgendwann heraus, dass eine seiner Angestellten seine Frau ist oder so ähnlich und schon ganz lange dort arbeitet. Wir haben die Finanzen in der Hand gehabt, wir haben den Leuten Geld gegeben. Sie sind mit Anliegen oder Rechnungen zu uns gekommen. Auch die Frau. Aber vielleicht haben wir das Guesthouse auch gar nicht geleitet. Vielleicht hat diese Frau das Guesthouse indirekt geleitet. Ja, genau, vielleicht haben wir das Guesthouse gar nicht geleitet". Petra Elena Köhle und Nicolas Vermot Petit-Outhenin haben ein erstes Mal bei den Swiss Awards 2004 auf sich aufmerksam gemacht. Sie haben wichtige Weltereignisse in Papier nachgebildet - Titel des Werkes: Ereignisse 2003 ( Wurde durch die Stadt Zürich angekauft.). Es folgten weitere Einzel- und Gruppenausstellungen z.B. im Museum Liner, Appenzell (Gruppen), Les Complices, Zürich (Einzel), Fotomuseum, München (Gruppen), Kritiku, Prag (Gruppen), Kunstraum exex, St. Gallen (Gruppen) und Kunsthaus Glarus (Einzel). Nach der Ausstellung in der Galerie Madonna#Fust gehen die beiden Künstler 10 Monate lang ins Instituto Svizzero nach Rom. Was auch als Auszeichnung für ihre bisherige Arbeit zu sehen ist. Ausstellungsdauer 7.9. - 13.10.2007 Oeffnungszeiten Mi/Fr 12.30 - 18 Uhr, Do 12.30 - 20 Uhr, Sa 11 - 16 Uhr Galerie MADONNA#FUST Rathausgasse 14 3011 Bern Telefon/Fax +41 (0)31 311 28 18 Email galerie@madonnafust.ch www.madonnafust.ch Petra Elena Köhle and Nicolas Vermot Petit-Outhenin Alberts Guesthouse Between the lines of the protocol Today's litter: empty film cans and film boxes. These days the reflection about the authenticity of a closed, reproduced image, about transience and durability, fragmentation and the power of imagination is part and parcel of a photographer's job. The two young artists Petra Elena Köhle and Nicolas Vermot Petit-Outhenin (both studied photography at the School of Art & Design Zurich) do not only take photographs by means of their camera, but also with language and objects: protocols, notes, quotations, different forms of documents - linguistic snapshots and pieces of evidence from everyday life that are later "developed", subsequently "exposed", "coloured", "enlarged" and sometimes "duplicated". Central to this procedure is therefore not the external but the internal image. What do all these copies of realty mean to us, how do we capture emotional colour, how does the nomenclature of memory work and how do we activate this inner archive so as to produce stories? Documentary photography, which arrests private and public everyday life in such a peculiarly selective way, is thus declared an artistic strategy that extends to other media and may result in staged protocols. When I was a young girl I did not like bikini tops at all. For the work "Pour les oiseaux" (edition fink, Zurich), made in 2004-2006 and quite frequently shown, fifty people were asked to talk about a turning point in their lives. The answers, which indeed reduce a person to a "point" and, in their condensation, are as funny as they are moving, have been pinned on a wall with other "documents". The installation looks as if a family album had been opened. The presentation of the Palermo experiment "Anche se non posso focalizzarti - sei nel mio sguardo", which resulted in an invitation to the Istituto Svizzero di Roma, is rather reminiscent of scientific research. It analyses the possibility of an accidental encounter of two people who, following strict rules, must not look for each other in any systematic way. Equipped with cameras and GPS devices they carefully document and accompany with daily notes the distances covered within the city boundaries of Palermo previously fixed on the map. This results in a net of traces that, although everything seems to have been painstakingly documented, also gives us a hunch of all the things that slip through. Albert says: Srey Touch is confused. Srey Touch says she has had a long-standing relationship with Albert and that yesterday he wanted to break it off. "What would your friend standing in front of the other door say about the door you are watching?" This is the solution to the well-known game of logic each of us mulled over at least twice, as the answer had been forgotten: a prison, two guarded doors of which only one leads to freedom, one guard who says the truth, the other one is a liar, and you are allowed to ask only one question. In reality though, there is usually more than just one door, and nobody knows whether anyone is lying, maybe even only a little or not quite, who is guardian and who prisoner, who is game leader and what has to be understood by freedom. One guesthouse, two employees, six rooms, an absent boss, guests who come and go. Those are the basic conditions of a test set-up within the microcosm of the Cambodian city "Sihanoukville", where in November 2004 the two artists took over the management of the small hotel "Alberts guesthouse" for eleven days. The owner of the hotel, whom they had met a few days previously in the "Fullmoon Bar", had to leave for his father's funeral so that he asked the two Swiss to take care of the guesthouse while he was away. So what are you writing about me in your project? Parallel to the work they produce a protocol that lists check-ins and check-outs, compiles guests' file cards, which contain, besides room number, price, name and nationality, a short personal portrait. Daily notes, photos, documents, everything that seems important, even things the guests collected themselves were added to the protocol. It could have been more beautiful. What at first sight seems to be neatly numbered (what on earth does this numbering system mean?) and seemingly objective, starts to take on a peculiar life of its own. The language is simple and unpretentious, sometimes fragmentary, like in a telegram, mostly however formulated in main clauses. There are few conjunctions; the devices that bridge the sentences logically are reduced to a minimum. One note follows the other, just as one photograph hangs next to the other, but how does one make sense of them in a group? The best part of the protocol is written in English, the sort of English spoken on holiday, which guests as well as staff try to get their tongues around, only to provoke no end of misunderstandings. How did you mean that? Both of them have had an English lover. Behind each personal description there is usually only a single sentence that, comparable to the turning point in the life of the people in the project "Pour les oiseaux", sums the person up. An isolated sentence, thus liberated, has a huge effect and sometimes says more about the predetermined break zone in one's life, about colonialism, about the relationship between men and women, about desires and hopes, than a complete story. Look at this place. It's all artificial. The precise work with language manifested in Petra Elena Köhle and Nicolas Vermot Petit-Outhenin's art bespeaks a special attention given to the spaces between the lines of the text. It is those gaps that produce the space needed to provide an echo for the single sentences and the information they carry, so that the banal and uncanny hidden by the stream of words may rise to the surface again. Only by staging those gaps do traces refer to traces, thus telling us quite a lot, yet without ever becoming the one narrative. Rather it is a manual how to come up with one's own interpretation. For the exhibition at gallery Madonna#Fust the artists produced an installation that, on the different levels of the gallery, creates part of the laboratory in which the game without rules had been played for seven days. The publication "Alberts guesthouse" (edition fink, Zurich 2007), which reproduces the protocol in its entirety, is one part of the installation. The opening at gallery Madonna#Fust on 7 September 2007 will also be the book presentation. At the end we had become quite suspicious, because there did not seem to be a coherent story: "What are they telling us anyway? Is it the truth? We meet this guy in a bar and a few days later we are managing his guesthouse. Then at some point it materialises that one woman belonging to his staff is his wife or some such thing and has been working there for ages. We were responsible of the finances and paid the people their money. They came to us with requests or invoices. The woman also. But maybe we did not manage the guesthouse at all. Maybe it was the woman who managed it indirectly. Yes, exactly, maybe we did not manage the guesthouse after all". Exhibition 7 September - 13 October 2007 Gallery hours Wed/Fri 12.30 am - 6 pm, Thur 12.30 am - 8 pm, Sat 11 am - 4 pm |