Installationsansicht im Helmhaus Zürich, 2006 Till Velten Seelensysteme In Gesprächen mit Theologen und Psychoanalytikern ergründet der Basler Künstler Till Velten "Seelensysteme": Seelensysteme derer, die Rat suchen bei Theologen und Analytikern - und Seelensysteme von Theologen und Analytikern. Im Gespräch mit diesen Gesprächsprofis geht es nicht zuletzt auch um das Wesen von Gesprächen selbst. "Das Gespräch ist für mich das spannendste Mittel, um in der Welt zu forschen", erklärt Till Velten. Seit 2001 wendet er dieses Mittel an und erkundet, was ihm in seiner Umgebung auffällt. Er richtet sein Interesse auf Berufsleute, die in einer dienenden Funktion stehen: auf einen Wachmann an der Kunstmesse, auf zwei Pizzabäcker, auf eine Seelsorgerin, einen Übersetzer, eine Restauratorin, eine Lehrerin, auf Pfarrer und Psychoanalytiker, auf eine Masseurin, einen Coiffeur, einen Künstler. Er richtet sein Interesse auf Menschen, die ihre Freizeit mit einer Passion ausfüllen, die Berufsleuten in der Regel abgeht: einen Steinsammler, einen Steinemaler und einen Imker. Er richtet sein Interesse auf Dinge, die ihm in seiner Umgebung auffallen und befragt Leute dazu: eine extrem schmale Fassade an einem Haus, ein halböffentlicher Garten, ein Foto in einem Fenster. Er richtet sein Interesse auf Unternehmen, Vereine und Institutionen: das Swarovski-Imperium oder die deutsche Nationalmannschaft der Fussballerinnen. Und er richtet sein Interesse schliesslich auf Fragen, die ihn beschäftigen: Was passiert im Unbewussten? Wie drücken sich Menschen aus? Was verbergen sie? Was sind ihre Sorgen und Ängste, Ziele und Wünsche? Wie hilft man Menschen? Wie erleben sie Krankheiten? Was ist nach dem Tod? Till Veltens Antrieb ist seine eigene Neugierde, er ergründet Kompetenzen und Leidenschaften, kleine und grosse Lebensfragen, Absonderlichkeiten und Dinge, die jedermann beschäftigen. In seinen Forschungen lässt er sich leiten von seinen eigenen Interessen und dem, was seine Gesprächspartner ansprechen. So entwickelt sich seine Arbeit nach einem Schneeballprinzip, das von der einen zur andern Frage, vom einen zum andern Gesprächsgegenstand, vom einen zum andern Gesprächspartner, vom einen zum andern übergreifenden Thema führt. Aus diesen netzwerkartigen Systemen entstehen einzelne Arbeitskomplexe, die sich wiederum in den Komplex eines Gesamtwerks einfügen. "Ich biete den Gesprächspartnern nichts anderes als einen offenen Raum an", beschreibt Velten. Er bereitet sich auf die Gespräche vor und gibt ihnen moderierend eine Form. Sein Fragestil ist eigentlich recht trocken, oft hängt er mit der Beobachtung eines Details ein (auf das er auch hartnäckig zurückkommen kann). Die Fragen sind offen, von einem aufrichtigen Interesse geleitet. Taktiken und Tricks, den Befragten Dinge zu entlocken, die sie lieber nicht preisgeben würden, sind Velten fremd. Und doch erzählen ihm die Leute Erstaunliches: Weil sich ihnen keine anderen Gelegenheiten dafür bieten und der Künstler eine Leerstelle im gesellschaftlichen System ausfüllt? Für die Befragten ist er weder Verwandter noch Freund, weder Journalist, noch Seelsorger, noch Psychotherapeut. Sondern ein unbefangener, unabhängiger, allein von seinen Interessen geleiteter Gesprächspartner. Die Gespräche werden transkribiert und hinterher von Schauspielern nachgesprochen. Die Transkriptionen bleiben nah an den Originalgesprächen. Vor der Veröffentlichung lässt Velten die Transkriptionen von den Gesprächspartnern gegenlesen und autorisieren. Die Authentizität, die dadurch erhalten bleibt, erfährt mit dem Nachsprechen von Schauspielern eine Objektivierung. Bildet das einzelne Gespräch eine Einheit, ergibt sich aus dem Spektrum der Gesprächspartner ein Geflecht von Beziehungen, das Veltens Forschung recht eigentlich ausmacht. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit Phänomenen der Parapsychologie in der Ausstellung "SPUK" im Kunstverein Freiburg i.Br. ist Velten auf Bilder gestossen, die in Traumerzählungen vorkommen. Dadurch angeregt, begann er sich für C.G. Jungs Arbeit mit den Bildern seiner Patienten und dessen Archetypen-Lehre zu interessieren. Und da Velten seinen Interessen nachgeht, indem er mit "Betroffenen" spricht, wandte er sich zunächst an Psychoanalytiker und dann an Pfarrer und an Priester (Jungs Vater war Theologe, und Jung selber hat sich intensiv mit der Beziehung zwischen Theologie und Psychoanalyse beschäftigt). Für Till Velten waren die Gespräche mit diesen beiden Berufsgruppen insofern speziell, als das Gespräch sowohl für die Psychoanalyse wie für die Seelsorge selber zentral ist. In einem erweiterten Wortsinn betreiben sowohl Theologen wie Psychoanalytiker Seelsorge. Im Gespräch mit fünf Theologen und fünf Psychoanalytikern untersucht und vergleicht Velten die Seelsorge der Theologen mit der Therapie der Psychoanalytiker: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf ihre Methoden, auf ihre Ausgangslage und ihre Ziele, auf ihre Ressourcen und ihre Probleme. Bezeichnend ist dabei nur schon die Tatsache, wie gross das gegenseitige Interesse von Theologen und Analytikern ist und wie häufig Wechsel vom einen ins andere Lager vorkommen. Velten spricht mit den Analytikern, den Pfarrern und Priestern über die Seelensysteme derer, die sie aufsuchen - und implizit natürlich auch über ihre eigenen Seelensysteme. Aus den individuellen Seelensystemen entsteht in der Ausstellung - geformt vom Künstler - ein kollektives Seelensystem, das von den BesucherInnen individuell rezipiert wird. Im Zentrum der Gespräche mit diesen Gesprächsprofis steht das Wesen des Gesprächs selber: Was für Fragen werden gestellt? Wie wird das Gespräch von den beiden Gesprächspartnern erlebt? Wie ist der Anteil von Verbalem und Nonverbalem? Wo gibt es Grenzen? Was passiert, wenn die "professionellen Zuhörer" zum Sprechen gebracht werden? Wie hallt das Gespräch nach? Wie erholt man sich davon? Weil das Gespräch über das Gespräch selber auch wieder ein Gespräch ist, reflektieren sich darin auch Veltens eigene Techniken, Fragestellungen und Probleme. Künstlerisch gesprochen handelt es sich damit auch um eine Art Selbstporträt. In einer Weiterführung des Themas der "Seelensysteme" haben Veltens Nachforschungen einen Kreis erschlossen, der in ein nachfolgendes Projekt münden dürfte: Er hat einen Coiffeur, eine Kosmetikerin, eine Masseurin und eine Sexualtherapeutin befragt. In der Ausstellung "Seelensysteme" - seiner bisher umfangreichsten - treten Till Veltens Gespräche in vier verschiedenen Erscheinungsformen auf: Den grössten Teil der Gespräche können die Besucherinnen und Besucher individuell oder kollektiv ab verschiedenen Tonquellen hören. Hinzu kommen Videomitschnitte von Gesprächen (zum Sehen) und eine Transkription (zum Lesen). Jeweils am Donnerstagabend finden im Helmhaus Zürich moderierte Live-Gespräche, Vorträge und eine Predigt statt, und somit kommt es hier auch zu Direktbegegnungen zwischen Theologen und Analytikern. Für jene, die nicht bei der Theorie bleiben wollen, bieten die drei Landeskirchen in der Wasserkirche wöchentlich Segnungen an. Till Velten (1961 in Wuppertal geboren, gehört zur Basler Kunstszene) hat an der Kunstakademie Düsseldorf Malerei und Bildhauerei studiert. Er sagt heute von sich, dass er "mit Gesprächen bildhauert". Wie die Gespräche in der Ausstellung inszeniert werden, soll eine Überraschung bleiben. Insofern, als Gespräche Veltens "Materie" sind, handelt es sich hier fraglos um Bildende Kunst. Und selbst wenn diese Gespräche von so Immateriellem wie der Seele handeln: dass Kunst auf die Seele wirken soll, ist uralt, und ebenso, dass sie sich mit ihr befasst. Vom Journalismus trennen Velten seine Themen, die Konstellation seiner Gesprächspartner, die Art und Weise, wie er fragt, seine Gespräche aufbaut und inszeniert. Somit besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit der Ausstellung eines Bildenden Künstlers zu tun haben - wenn auch mit einem aussergewöhnlichen. Aussergewöhnlich sind schliesslich auch seine Themen und die Direktheit, mit der er sich mit dem Menschen befasst. Till Velten ist bisher unter anderem mit Ausstellungen in der Kunsthalle Basel, im Kunstmuseum Solothurn, im Kunstverein Freiburg i.Br. (SPUK, 2003), im Kunsthaus Langenthal, im Martin-Gropius-Bau Berlin (Rundlederwelten, 2005), in der Kartause Ittingen, im Kunsthaus Zug und in einem Projekt im öffentlichen Raum in der Zürcher Hardau in Erscheinung getreten. Er wird von der Galerie Stampa in Basel vertreten und hat verschiedene Publikationen in der edition fink, Zürich, herausgegeben. In der edition fink erscheint denn auch eine zweibändige Publikation: ein Band mit 40 ausgewählten Gesprächen, herausgegeben von Isabel Zürcher und Georg Rutishauser, und ein mit Installationsfotos illustrierter Kommentarband mit Texten von Lilian Pfaff und Simon Maurer. Simon Maurer Die Ausstellung wird vom C.G. Jung-Institut Zürich, Küsnacht, von der videocompany.ch (Zofingen) und von der SYMA-SYSTEM AG, Kirchberg, unterstützt. Ausstellungsdauer 11.5. - 2.7.2006 Öffnungszeiten Di-So 10 - 18 Uhr, Do 10 - 20 Uhr Helmhaus Limmatquai 31 8001 Zürich Telefon +41 44 251 61 77 Fax +41 44 261 56 72 www.helmhaus.org |